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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Geschichte der Stadt Junitaki eine einfache Chronologie. Rechts notierte ich die Ereignisse in Junitaki, links die wichtigsten Daten der japanischen Geschichte. Es entstand eine historische Zeittafel, die sich sehen lassen konnte.
    Zum Beispiel 1905: Port Arthur fällt – Der älteste Sohn des jungen Ainu fällt im Krieg. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuschte, war das zugleich das Geburtsjahr des Schafprofessors. Geschichte verknüpfte sich allmählich zu einem zusammenhängenden Ganzen.
    Sie verglich die Spalten meiner Zeittafel und sagte: »So gesehen scheint es, als hätten die Japaner von einem Krieg zum anderen gelebt.«
    »Ja, so scheint es.«
    »Wie kam es nur dazu?«
    »Das ist eine komplizierte Sache. Mit einem Satz lässt sich das nicht beantworten.«
    »Hm.«
    Wie alle Wartesäle war auch dieser ungemütlich und öde. Auf der Bank konnte man kaum sitzen, der Aschenbecher war voll gestopft mit aufgequollenen Kippen, die Luft stand. An den Wänden hingen ein paar Urlaubsposter und Fahndungslisten. Außer uns warteten nur noch ein alter Mann in einem kamelhaarfarbenen Pullover und eine Mutter mit ihrem zirka vierjährigen Jungen. Der alte Mann veränderte seine einmal eingenommene Sitzhaltung um keinen Deut; er war ganz in seine Literaturzeitschrift vertieft. Er schlug die Seiten um, als zöge er Heftpflaster ab. Es dauerte jeweils ganze fünfzehn Minuten, bis er die nächste Seite umblätterte. Das Mutter-Kind-Gespann wirkte wie ein altes, einander überdrüssiges Ehepaar.
    »Wahrscheinlich läuft es darauf hinaus, dass die Menschen arm waren und dachten, sie könnten vielleicht mit ein bisschen Glück ihrer Armut entfliehen.«
    »Wie die Leute von Junitaki?«
    »Wie die Leute von Junitaki. Eben deshalb haben die Siedler wie verrückt ihre Felder bestellt, bis zum Umfallen. Trotzdem sind die meisten arm gestorben.«
    »Warum?«
    »Wegen des Bodens. Hokkaido ist eine Kältezone, und alle paar Jahre wird die Ernte durch Frost vernichtet. Und wenn man keine Ernte einbringen kann, hat man nichts zu essen und keine Einnahmen. Dann kann man kein Öl kaufen und auch keinen Samen für den nächsten Frühling. Also nimmt man Hypotheken auf das Land auf und macht bei Wucherern Schulden. Aber die Landwirtschaft hier im Norden ist nicht so produktiv, dass man die Zinsen zurückzahlen könnte. Am Ende wird einem das Land abgenommen. Auf diese Weise wurden viele Bauern zu abhängigen Pächtern.«
    Ich blätterte Die Geschichte der Stadt Junitaki noch einmal kurz durch. »Im Jahre 1930 war der Anteil von selbständigen Bauern an der Bevölkerung Junitakis auf 46 Prozent gesunken. Die große Depression Ende der Zwanziger fiel mit einer Frostperiode zusammen.«
    »Da hatten sie nun mühevoll Land gerodet, um neues Ackerland zu gewinnen, und kamen dann doch nie aus den Schulden heraus.«
    * * *
    Wir hatten mehr als vierzig Minuten Zeit. Meine Freundin sah sich alleine ein bisschen in der Stadt um, ich blieb im Wartesaal, trank eine Cola und schlug das Buch auf, das ich gerade las. Ich versuchte, mich darin zu vertiefen, gab aber nach zehn Minuten auf und steckte es wieder in die Tasche. In meinen Kopf ging einfach nichts hinein. Die Schafe von Junitaki spukten darin herum und fraßen alle Buchstaben, die sie bekommen konnten, ratzekahl auf. Ich schloss die Augen und seufzte. Pfeifend fuhr ein Güterzug vorbei.
    * * *
    Zehn Minuten, bevor unser Zug abfuhr, kam sie zurück. Sie hatte Äpfel gekauft, unser Mittagessen. Dann stiegen wir ein.
    Der Zug muss kurz vor der Verschrottung gestanden haben. Die Bodenbretter waren an den Rändern vollkommen ausgetreten, sodass man wie auf See hin und her wankte, wenn man den Gang entlangging. Die Sitzbezüge waren völlig abgewetzt und die Kopfstützen hart wie vier Wochen altes Brot. Alles im Wagen roch nach Verhängnis, vermischt mit Toiletten- und Dieselgestank. Ich brauchte zehn Minuten, um das Fenster herunterzuschieben und frische Luft hereinzulassen, aber als der Zug losfuhr, flog feiner Sand herein; also verwandte ich nochmals zehn Minuten darauf, das Fenster wieder zu schließen. Der Zug hatte zwei Waggons, in denen zusammen ungefähr fünfzehn Fahrgäste saßen. Alle waren verbunden durch die dicken Bande von Desinteresse und Langeweile. Der alte Mann mit dem kamelhaarfarbenen Pullover las weiter in seiner Zeitschrift. Seiner Lesegeschwindigkeit nach zu urteilen wäre es nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn er die Nummer von vor drei Monaten in Händen gehalten

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