Wilde Schafsjagd
ein. Alle fünf waren Söhne der ersten und zweiten Siedlergeneration. Einer der beiden Gefallenen war der älteste Sohn des jungen Ainu, der jetzt Dorfschäfer war. Sie starben in Armeemänteln aus Schafwolle.
»Warum um alles in der Welt zieht man in fremde Länder und führt Krieg?«, fragte der Ainu-Schäfer die Dorfbewohner. Er war mittlerweile schon fünfundvierzig.
Aber niemand beantwortete ihm seine Frage. Und so zog er sich aus dem Dorf auf seine Weide zurück, um zu leben wie die Schafe. Seine Frau war fünf Jahre zuvor an Lungenentzündung gestorben, und die beiden Kinder, die ihm noch geblieben waren, zwei Töchter, waren längst verheiratet. Als Lohn dafür, dass er sich um die Schafe kümmerte, versorgte das Dorf ihn mit Nahrung und einer gewissen Summe Geld.
Seit er seinen Sohn verloren hatte, entwickelte er sich zusehends zu einem verbitterten, schwierigen alten Mann und starb im Alter von zweiundsechzig. Eines Wintermorgens entdeckte sein junger Gehilfe die Leiche. Er lag auf dem Boden des Schafstalls – Tod durch Erfrieren. Zwei Hunde, wahrscheinlich die Enkel der ersten Generation Border Collies, wachten neben dem Toten und winselten verzweifelt. Die Schafe wussten von nichts und fraßen weiter ihr Heu, das in den Koben ausgebreitet lag. Ihr rhythmisches, klapperndes Kauen hallte in der Stille des Stalls wider wie ein Kastagnettenkonzert.
Die Geschichte von Junitaki ging zwar noch weiter, aber für den jungen Ainu war sie an dieser Stelle zu Ende. Ich ging zum Pissoir und ließ zwei Dosen Bier ab. Als ich an meinen Platz zurückkam, war meine Freundin wach und starrte träge aus dem Fenster auf die Landschaft hinaus. Draußen erstreckten sich weite Reisfelder. Von Zeit zu Zeit sah man auch ein Silo. Ein Fluss kam näher und verschwand wieder. Ich rauchte eine Zigarette und betrachtete die Landschaft und das die Landschaft betrachtende Profil meiner Freundin. Sie sprach kein Wort. Als ich zu Ende geraucht hatte, kehrte ich wieder zur Lektüre meines Buchs zurück. Flatternd huschten die Schatten einer Eisenbahnbrücke über die Seiten.
Nach der unglückseligen Geschichte um den jungen Ainu, der als alter Schäfer starb, war der Rest ziemlich langweilig. Abgesehen davon, dass in dem und dem Jahr zehn Schafe von Blähsucht hinweggerafft wurden oder die Ernte durch Frosteinfall einen vernichtenden Schlag erhielt, verlief die Entwicklung des Dorfes normal, und Anfang der zwanziger Jahre wurde Junitaki zur Stadt erklärt. Die neue Stadt blühte auf und wurde mehr und mehr ausgebaut. Grundschule und Stadtverwaltung wurden errichtet, und Junitaki bekam sogar eine eigene Postzweigstelle. Die Erschließung Hokkaidos war zu dieser Zeit größtenteils abgeschlossen.
Es gab kaum noch bebaubares Neuland, und es kam vor, dass ein paar Bauernsöhne die Stadt verließen, um sich in der Mandschurei oder auf Sachalin ein neues Paradies zu suchen. In der Beschreibung der Zeit um 1937 tauchte auch der Schafprofessor auf: Der technische Beamte des Landwirtschaftsministeriums, Herr __, der lange Zeit Forschungen in Korea und der Mandschurei betrieben hatte, trat aus nicht näher bestimmten Gründen von seinem Amt zurück und errichtete auf einem Hochplateau nördlich von Junitaki eine Schafweide, hieß es. Es war die einzige Stelle im Buch, in der der Schafprofessor Erwähnung fand. Der Autor und Heimatkundler schien sich bei seiner Beschreibung der jüngeren Geschichte der Stadt selbst außerordentlich zu langweilen – die Darstellung wurde jedenfalls lückenhaft und glitt ab ins Gewöhnliche. Verglichen mit den Stellen, in denen es um den jungen Ainu ging, verlor auch der Stil erheblich an Frische.
Ich überging die Jahre von 1938 bis 1969 und beschloss, das Kapitel »Junitaki heute« zu lesen. Aber »Junitaki heute« war eigentlich »Junitaki 1970«, also nicht wirklich »heute«. Wirklich »heute« wäre Oktober 1978 gewesen. Aber wenn man die Chronologie einer Stadt verfasst, ist man einfach gezwungen, am Ende die Gegenwart zu bringen. Denn auch wenn Gegenwart sofort ihren gegenwärtigen Charakter verliert – niemand kann bestreiten, dass Gegenwart gegenwärtig ist. Wenn Gegenwart aufhörte, gegenwärtig zu sein, wäre Geschichte nicht mehr Geschichte.
Der Geschichte der Stadt Junitaki zufolge hatte das Städtchen im April 1969 fünfzehntausend Einwohner, das waren sechstausend weniger als noch zehn Jahre zuvor. Die Hauptursache für diesen Bevölkerungsschwund sei der Rückgang im landwirtschaftlichen
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