Wilde Schafsjagd
gibt, geht’s ja noch, aber wenn sie nicht mehr ist, wird die Stadt sterben. Komisch, das über eine Stadt zu sagen. Ein Mensch stirbt, das versteht man, aber eine Stadt …«
»Was passiert, wenn eine Stadt stirbt?«
»Tja, was passiert? Das weiß niemand. Alle machen sich ja aus dem Staub, bevor sie es erfahren. Wenn die Einwohnerzahl unter die Tausendergrenze sinkt – was durchaus im Bereich des Möglichen liegt –, wird es für uns Beamte ebenfalls kaum noch Arbeit geben; vielleicht sollten wir auch besser sehen, dass wir von hier wegkommen.«
Ich bot ihm eine Zigarette an und gab ihm mit dem Dupont-Feuerzeug, in das das Schafwappen eingraviert war, Feuer.
»In Sapporo gibt es gute Stellen. Mein Onkel hat da eine Druckerei, aber nicht genügend Arbeitskräfte. Da unter seinen Auftraggebern auch ein paar Schulen sind, ist sein Betrieb ziemlich stabil. Das wäre eigentlich viel besser, als in dieser gottverlassenen Gegend Lasterladungen Schafe oder Kühe zu zählen.«
»Ja«, sagte ich.
»Aber jedes Mal, wenn ich denke, so, jetzt gehst du, tu ich es doch nicht. Verstehen Sie das? Wenn die Stadt schon wirklich sterben muss, will ich ihren Tod wenigstens mit eigenen Augen gesehen haben – dieses Gefühl ist stärker als der Drang wegzugehen.«
»Sind Sie hier geboren?«, fragte ich.
»Ja«, sagte er nur, weiter nichts. Eine melancholisch verfärbte Sonne verschwand zu einem Drittel hinter den Bergen.
Die Einfahrt der Weide bildeten zwei Masten, die oben ein Schild mit der Aufschrift »Schäferei der Stadt Junitaki« trugen. Unter dem Schild führte ein Weg hindurch, der steil anstieg und in einem herbstlich verfärbten Wäldchen verschwand.
»Hinter dem Wäldchen liegen die Ställe und dahinter das Wohnhaus des Verwalters. Aber wie kommen Sie zur Stadt zurück?«
»Ich laufe zurück, es geht ja bergab. Vielen Dank!«
Als der Wagen verschwunden war, ging ich zwischen den Masten durch den Weg hinauf. Die letzten Sonnenstrahlen gaben den herbstlich gelben Ahornblättern einen Stich ins Rötliche. Durch die hohen Bäume flackerten Lichtsprenkel über den durch das Wäldchen führenden Kiesweg.
Als ich aus dem Wäldchen heraustrat, sah ich den Schafstall, lang und schmal an eine Böschung gebaut. Dann nahm ich auch den Stallgeruch wahr. Das Mansardendach aus rotem Wellblech war mit drei Lüftungsschornsteinen bestückt. Vor dem Eingang zum Stall stand eine Hundehütte. Ein kleinwüchsiger, angeketteter Border Collie sah mich und bellte ein paar Mal. Es war ein alter Hund mit müden Augen und ohne Feindseligkeit in seinem Bellen. Als ich ihn kraulte, wurde er sofort ruhig. Vor der Hundehütte standen ein Futter- und ein Wassernapf aus gelbem Plastik. Als ich meine Hand wegnahm, trottete der Hund zufrieden in seine Hütte zurück und legte sich hin, die Vorderpfoten ordentlich nebeneinander.
Im Stall war es dämmerig, der Schäfer nirgends zu sehen. Links und rechts des breiten, betonierten Durchgangs waren die Schafkoben. Zu beiden Seiten des Durchgangs verliefen Abflussrinnen für Harn und Putzwasser. In die Bretterwand waren hier und da Fenster eingelassen, sodass man die Gipfellinie der Berge sehen konnte. Die Abendsonne tauchte die Schafe auf der rechten Stallhälfte in rotes Licht; auf die zur linken fiel mattblauer Schatten.
Als ich den Stall betrat, drehten sich augenblicklich sämtliche zweihundert Schafe nach mir um. Eine Hälfte stand, die andere Hälfte lag auf dem Heu, das auf dem Boden ausgebreitet war. Die unnatürlich blauen Schafaugen wirkten wie aus den Kopfhälften hervorsprudelnde Brunnen; wenn das Licht sie erfasste, strahlten und funkelten sie wie Glasaugen. Starr glotzten mich die Schafe an. Keines bewegte sich auch nur einen Deut von der Stelle. Einige kauten zwar weiter das Heu, das sie im Maul gehabt hatten, doch außer dem Mahlen der Zähne war nichts zu hören. Einige hatten Wasser getrunken, aber sofort innegehalten und in derselben Körperhaltung zu mir aufgesehen, die Köpfe über den Trögen vor den Koben. Die Schafe schienen als Einheit zu denken. Plötzlich war ich im Eingang aufgetaucht und hatte dieses Denken unterbrochen. Alles stand still, alle behielten sich ihr Urteil vor. Als ich mich wieder bewegte, wurde auch das Denken wieder in Gang gesetzt. Die Schafe in den acht Koben begannen, sich zu rühren. Im Koben für Mutterschafe versammelte sich alles um den Zuchtbock, im Koben für Böcke traten alle geschlossen zurück und hielten die Stellung. Nur einige
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