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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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geraucht hatte. Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste nicht einmal mehr, ob er überhaupt je geraucht hatte. Missvergnügt warf ich die Kippe in den Bach. In Null Komma nichts trug die Strömung sie zum Unterlauf.
    »Was ist?«, fragte meine Freundin.
    »Ich habe eine frische Kippe entdeckt«, sagte ich. »Noch vor kurzem muss hier jemand gesessen und wie ich eine Zigarette geraucht haben.«
    »Dein Freund?«
    »Wer weiß. Möglich wär’s.«
    Sie setzte sich neben mich aufs Geländer und steckte sich mit beiden Händen das Haar hoch. Sie hatte mir ihre Ohren lange nicht gezeigt. Das Rauschen des Wasserfalls ließ mit einem Mal nach, dann setzte es wieder ein.
    »Magst du meine Ohren noch?«, fragte sie.
    Ich lächelte, streckte sacht den Arm aus und berührte mit den Fingerspitzen ihr Ohr. »Ich liebe sie, du weißt es«, sagte ich.
    Nach weiteren fünfzehn Minuten hörte der Weg plötzlich auf. Auch das Birkenmeer war zu Ende, wie abgeschnitten. Eine Weide lag vor uns, großflächig wie ein See.
    * * *
    Um die Weide waren im Abstand von je fünf Metern Pflöcke eingeschlagen, und zwischen den Pflöcken war Draht gespannt. Alter, rostiger Draht. Das musste die Schafweide sein; wir waren da. Ich drückte einen Flügel des abgenutzten Holztors auf und betrat die Weide. Das Gras war weich, die Erde schwarz und feucht.
    Über die Weide zogen schwarze Wolken in Richtung auf ein hoch aufragendes Bergmassiv. Der Blickwinkel stimmte nicht ganz, aber es waren ohne Zweifel dieselben Berge wie auf Rattes Foto. Ich brauchte es gar nicht erst aus der Tasche zu ziehen.
    Das war schon merkwürdig, vor meinen eigenen Augen die Landschaft zu haben, die ich Hunderte von Malen auf dem Foto gesehen hatte. Die Tiefe wirkte erschreckend künstlich. Ich hatte weniger das Gefühl, angekommen zu sein, als den Eindruck, jemand hätte die Landschaft eilig dem Foto entsprechend nachgestellt.
    Ich lehnte mich an das Tor und seufzte. Wir hatten es jedenfalls gefunden. Was es bedeutete, stand auf einem anderen Blatt, aber wir hatten es gefunden.
    »Wir sind da, nicht«, sagte sie und legte ihre Hand auf meinen Arm.
    »Ja, wir sind da«, sagte ich. Mehr gab es nicht zu sagen.
    Gegenüber, am anderen Ende der Weide, stand ein altes einstöckiges Holzhaus, amerikanischer Blockhausstil. Das Haus, das der Schafprofessor vor vierzig Jahren gebaut und das Rattes Vater dann gekauft hatte. Es stand nichts zum Vergleich daneben, sodass die Größe aus der Entfernung nicht genau zu schätzen war, aber es sah untersetzt und ausdruckslos aus. In dem Licht, das der bewölkte Himmel hergab, wirkte der weiße Anstrich unheilvoll düster. Mitten aus dem senf- bis rostiggelben Mansardendach ragte ein viereckiger Ziegelschornstein empor. Statt eines Zaunes breiteten ein paar betagte immergrüne Bäume ihre Zweige aus und schützten das Haus vor Regen, Wind und Schnee. Das Haus machte einen geradezu seltsam unbewohnten Eindruck. Es sah merkwürdig aus. Nicht, dass es abstoßend gewesen wäre oder unheimlich; auch war es weder irgendwie verrückt gebaut noch verfallen. Es war nur – merkwürdig. Es sah aus wie ein riesiges Lebewesen, das gealtert war, ohne sich selbst recht ausdrücken zu können. Ohne recht zu wissen, nicht wie, sondern was es eigentlich ausdrücken solle.
    Plötzlich roch es nach Regen. Besser, wir beeilten uns. Wir überquerten die Weide in gerader Linie Richtung Haus. Von Westen zogen nicht die bisherigen Dunstfetzen herüber, sondern dicke, schwere Regenwolken.
    Die Weide zog sich unsäglich hin. So schnell wir auch liefen, ich hatte nicht das Gefühl voranzukommen. Die Entfernung ließ sich einfach nicht abschätzen.
    Mir wurde bewusst, dass ich zum ersten Mal im Leben über so weites, flaches Land lief. Selbst weit entfernte Windbewegungen schienen greifbar nahe. Ein Vogelschwarm flog über uns Richtung Norden, den Zug der Wolken kreuzend.
    Als wir nach langer, langer Zeit endlich das Haus erreichten, regnete es bereits in großen Tropfen. Das Haus war wesentlich größer und wesentlich verkommener, als es aus der Ferne den Anschein gehabt hatte. Wie Schorf blätterte überall der weiße Anstrich ab, und die bloßgelegten, vom Regen gepeitschten Stellen hatten sich nach und nach schwarz verfärbt. In diesem Zustand musste, bevor man an einen neuen Anstrich denken konnte, die alte Farbe erst vollständig entfernt werden. Wer immer das würde tun müssen, er tat mir leid. Unbewohnte Häuser verfallen. Dieses hier hatte ohne Zweifel seinen

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