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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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und nun über Hokkaido zum Ochotskischen Meer wanderten. Je mehr dieser Wolkengruppen wir kommen und wegziehen sahen, desto bedrohlicher prägte sich uns die Unbeständigkeit der Stelle ein, an der wir standen. Eine einzige launische Bö konnte uns mitsamt der an der brüchigen Felswand klebenden Kurve ins Nichts des Tales reißen.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagte ich und schulterte den schweren Rucksack. Ob Regen oder Schnee, je schneller wir ein Dach über dem Kopf hatten, desto besser. Hier, an diesem hundserbärmlich kalten Platz, hatte ich keine Lust, patschnass zu werden.
    Wir beeilten uns, die »beschissene Kurve« hinter uns zu lassen. Sie hatte tatsächlich, wie der Verwalter gesagt hatte, etwas Verhextes. Man spürte es körperlich, einen betäubenden, unheilvollen Druck, der bis in den Kopf stieg und dort irgendwo Alarm auslöste. Ein Gefühl, wie wenn man einen Fluss durchwatet und plötzlich in einen Strom kälteren oder wärmeren Wassers gerät.
    Unsere Schritte verursachten auf der etwa fünfhundert Meter langen Strecke immer wieder andere Geräusche. Mehrfach schlängelten sich Bächlein zusammenfließenden Wassers über den Weg.
    Wir behielten, als wir die Kurve hinter uns hatten, unser Tempo unverändert bei. Wir wollten weiter weg davon. Erst nach etwa einer halben Stunde Marsch, als die Felswand nicht mehr ganz so steil aufragte und vereinzelt Bäume ins Blickfeld kamen, wich der Druck von der Seele, atmeten wir auf.
    Der Rest des Weges stellte keine großen Anforderungen mehr. Er war eben, die Umgebung nahm freundlichere Züge an und wandelte sich bald zum Bild einer friedlichen Hochebene. Sogar Vögel tauchten auf.
    Nach einer weiteren halben Stunde lag der merkwürdige, kegelförmige Berg vollständig hinter uns, und wir erreichten ein weites, tafelflaches Plateau, rings umschlossen von steil aufragenden Gipfeln. Das Ganze sah aus, als ob ein gigantischer Vulkan halb in sich zusammengestürzt wäre. Ein Meer von herbstlich verfärbten Birken erstreckte sich vor unseren Augen, durchsetzt von vielfarbigem Gebüsch und weichem Unterholz; hier und da lagen umgestürzte Stämme von Birken, die der Wind entwurzelt hatte, braun und halb verrottet.
    »Ein schönes Fleckchen«, sagte meine Freundin.
    Das war es, ohne Frage, nach der Kurve, die wir hinter uns hatten. Ein gerader Pfad führte mitten durch das Birkenmeer. Er war eben breit genug für einen Jeep und so schnurgerade, dass einem schwindelig werden konnte. Keine Kurve, keine steile Steigung. Der Pfad lief schnurstracks in einem Punkt zusammen. Über diesem Punkt thronten schwarze Wolken.
    Es war erschreckend still. Selbst die Geräusche des Windes wurden von dem großen Wald verschluckt. Hin und wieder zeigte ein plumper schwarzer Vogel seine rote Zunge und zerschnitt mit gellendem Gekreisch die Luft, doch sobald er verschwand, deckte wieder die Stille alles zu, wie nachrückendes, halbflüssiges Gelee. Das Laub auf dem Pfad war noch nass von dem Regen, der vor zwei Tagen gefallen war. Außer dem Vogel gab es nichts, was die Stille hätte stören können. Endlos erstreckte sich der Birkenwald und endlos mit ihm der schnurgerade Pfad. Selbst die tiefen Wolken, die bis eben noch so beklemmende Gefühle in uns ausgelöst hatten, wirkten vom Wald aus gesehen irgendwie irreal.
    Nach ungefähr fünfzehn Minuten Fußweg stießen wir auf einen klaren Bach. Darüber führte eine solide, aus Birkenstämmen gefügte und mit einem Geländer versehene Brücke. Eine kleine Lichtung lud zur Rast. Wir setzten unser Gepäck ab, stiegen zum Bach hinunter und tranken etwas Wasser. So köstliches Wasser hatte ich noch nie getrunken. Es war so kalt, dass es uns die Hände rötete, süß und roch nach weicher Erde.
    Die Wolken wanderten unentwegt, aber das Wetter schien sich doch zu halten. Meine Freundin schnürte ihre Bergschuhe nach; ich setzte mich auf das Brückengeländer und rauchte eine Zigarette. Vom Unterlauf her war das Rauschen eines Wasserfalls zu hören, dem Rauschen nach wohl ein eher kleinerer. Von links strich ein verirrter Windstoß über den Weg, kräuselte das Laub auf dem Boden und verlor sich dann rechts.
    Als ich meine Zigarettenkippe austrat, erblickte ich gleich daneben eine andere. Ich hob sie auf und sah sie mir aufmerksam an. Es war eine platt getretene Seven Star ; die Kippe war trocken, musste also nach dem Regen geraucht worden sein. Gestern, mit einem Wort, oder heute.
    Ich versuchte mich zu erinnern, welche Marke Ratte immer

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