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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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alle wissen genau, wo sie stehen.«
    »Wahnsinn«, sagte meine Freundin.
    »Mir erleichtert das natürlich die Arbeit. Man schnappt sich die Nummer eins, und die anderen trotten hinterher.«
    »Wenn die Rangordnung feststeht, warum streiten die Schafe dann noch?«
    »Wenn sich irgendeins verletzt, zum Beispiel, und seine Kräfte nachlassen, kommt die Rangordnung durcheinander. Das nächstuntere Schaf will hoch auf der Leiter und fordert das verletzte heraus. So geht das dann etwa drei Tage.«
    »Das arme Schaf!«
    »Wie man’s nimmt, das geht reihum. Das Schaf, das die Leiter runterfällt, hat ja, als es jung und stark war, auch welche von ihren Plätzen verdrängt. Die große Eintracht kommt erst im Schlachthaus. Nummer 1 oder Nummer 50, alle das gleiche Barbecue.«
    »Furchtbar«, sagte meine Freundin.
    »Am ärmsten sind aber die Zuchtböcke dran. Wissen Sie, was ein Schafharem ist?«
    Wir verneinten.
    »Das Wichtigste bei der Schafzucht ist die Kontrolle der Paarung. Deshalb werden die Böcke und die weiblichen Tiere streng getrennt gehalten, und dann lässt man nur einen Bock zu den Weibchen. Meistens den stärksten, die Nummer 1. Schließlich will man den besten Samen. Nach etwa einem Monat, wenn der Bock seine Arbeit verrichtet hat, wird er wieder zu den anderen Böcken gesperrt. Die haben aber in der Zwischenzeit eine neue Rangordnung ausgekämpft. Der Zuchtbock hat wegen der Rammelei die Hälfte seines Gewichts verloren und kriegt natürlich keinen Stich. Trotzdem muss er gegen jeden anderen Bock antreten. Ein armes Schwein.«
    »Wie kämpfen denn die Schafe?«
    »Sie rennen sich die Köpfe ein. Schafsschädel sind hart wie Stahl und innen hohl.«
    Meine Freundin sagte nichts mehr. Sie schien an irgendetwas zu denken.
    Wahrscheinlich stellte sie sich mit gesenkten Schädeln aufeinander zurennende Schafe vor.
    Nach etwa einer halben Stunde Fahrt verschwand plötzlich die Asphaltierung, und die Straße war nur noch halb so breit. Wie schwarze Brecher stürzte links und rechts Urwald auf den Wagen zu. Schlagartig wurde es um einige Grade kälter.
    Der Weg war eine Katastrophe, und der Jeep schlug aus wie eine Seismometernadel. Unheilvoll klatschte das Benzin in den Plastikkanistern zu unseren Füßen – wie gegen die Schädeldecke knallendes Hirn. Vom bloßen Hinhören bekam ich Kopfschmerzen.
    Auf diesem Weg fuhren wir zwanzig oder dreißig Minuten. Ich konnte nicht mal richtig meine Uhr ablesen. Keiner sagte ein Wort. Ich hielt mich an einem im Sitz eingelassenen Gurt fest, meine Freundin klammerte sich an meinen rechten Arm, und der Verwalter konzentrierte sich ganz aufs Lenken.
    »Links!«, sagte er irgendwann knapp. Ich wusste nicht, was er meinte, sah aber nach links. Die Wand des schwarzfeuchten Urwalds war von der Bildfläche verschwunden, wie weggerissen, die Erde fiel steil ab ins Nichts und gab den Blick frei auf ein riesiges Tal. Die Aussicht war grandios – und kalt wie Eis. Der lotrecht abgeschnittene Fels stand bar allen Lebens, mehr noch, er blies seinen unheilvollen Atem auf die ganze Landschaft ringsum.
    Weit vorne rückte talseits ein seltsam glatter, kegelförmiger Berg ins Blickfeld. Die Spitze war verzogen, wie von einer Riesenhand aus der Form gedreht.
    Der Verwalter, beide Hände fest um das tanzende Lenkrad geklammert, deutete mit dem Kinn in Richtung Berg. »Um den müssen wir rum.«
    Schwerer, aus dem Tal aufkommender Wind bürstete zu unserer Rechten das üppige Gras hangauf. Feiner Sand prasselte gegen die Scheiben des Jeeps.
    Wir durchfuhren einige gefährliche Kurven und näherten uns immer mehr der Spitze des Kegels; der Hang zur Rechten wurde immer steiler und felsiger und wandelte sich schließlich zu einer lotrechten Wand. Wir fuhren auf einem gefährlich schmalen, wie aus einer riesigen, glatten Mauer herausgemeißelten Vorsprung.
    Das Wetter verschlechterte sich zusehends. Das fahle, stellenweise noch bläuliche Grau des Himmels verfärbte sich, wie seiner eigenen Unbestimmtheit überdrüssig, zu einem dunklen, rußig schwarz durchsetzten Grau und tauchte die Berge ringsum in melancholische Finsternis.
    Der Wind drehte wie in einem Mörser und pfiff wie toll. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Selbst mein Unterzeug klebte kalt am Körper. Der Verwalter durchfuhr mit fest zusammengepressten Lippen eine weite Kurve, rechts, rechts. Dann nahm er, den Oberkörper vorgebeugt, als lausche er auf irgendetwas, den Fuß vom Gas, brachte den Wagen an

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