Wilde Wellen
hatte sie von dem Schmerz gesprochen, der ihr Leben überschattet hatte. Von der Reue, die sie empfunden hatte, über den Fehler, den sie gemacht hatte und der nicht mehr gutzumachen gewesen war. Er hatte es in ihrem Blick gelesen, dass sie die Sehnsucht nach dem Kind, das sie geboren und verlassen hatte, in jeder Stunde ihres Lebens quälte. Und er hatte ihr gewünscht, dass sie doch einmal den Mut finden würde, nach ihrem Sohn zu suchen. Es hätte ihr Erleichterung verschafft, ihn zu sehen. Zu wissen, dass es ihm gut ging. Dass er ein glückliches Leben gefunden hatte. Dass seine Seele keinen Schaden genommen hatte, weil sie ihn nicht in ihrem Leben hatte haben können. Als er Paul Racine zum ersten Mal gesehen hatte beim Menhir von Kerloas, hatte er sofort gewusst, um wen es sich handelte. Es war keine äuÃere Ãhnlichkeit zwischen ihm und Céline gewesen. Der blonde junge Mann hatte seiner dunklen Mutter in keiner Faser geähnelt. Dafür war etwas in seinem Blick, das Xavier sofort an seinen Vater erinnerte. Den Mann, von dem Céline ihr ganzes Leben nicht hatte lassen konnte. Dem sie alles geopfert hatte. Und der nichts davon wissen durfte. Hätte er sie auf Paul aufmerksam machen sollen? Hätte er ihr sagen sollen, dass ihr Sohn gekommen war, um sie zu finden? Vielleicht, wenn er die stillschweigende Vereinbarung, die zwischen ihnen herrschte, nicht über ihre Vergangenheit zu reden, einfach gebrochen hätte, vielleicht wäre dann alles anders gekommen.
»Er würde dir gefallen, Céline. Er ist attraktiv, ja. Wie sein Vater. Aber er hat dein Herz. Das traurig ist, weil er dich nicht kennenlernen durfte.«
Der Abendwind erhob sich von der See. Er zupfte an den Blüten der SträuÃe, die auf Célines Grab lagen. Verwehte die ersten Blätter, die von den Bäumen fielen. Leise erhoben die verlorenen Seelen der Helena ihre Stimmen und schwollen zu ihrem traurigen Gesang an. Xavier empfand keinen Schrecken bei dieser Melodie des Todes. Er lebte schon so lange damit. Und in der letzten Zeit hatte er das Gefühl, dass sich eine weitere, hellere Stimme dem Gesang zugesellt hatte. Die Stimme von Céline. Sie war noch hier. Sie würde es bleiben, bis ihr Tod aufgeklärt und gesühnt war. Erst dann würde sie verstummen und ihre Seele würde Frieden finden. Und dann, wenn eines Tages das Geheimnis um den Untergang der Helena gelüftet war, würden auch die Stimmen der untergegangenen Seeleute verstummen. Xavier spürte, dass alles zusammenhing. Er erkannte die Unruhe, die die Täter in sich trugen. Sie hatten Schuld auf sich geladen. Und waren nicht bereit zu sühnen. Sie hofften, dass sie unerkannt blieben in ihrem Tun. Aber sie wussten nicht, dass ihr dunkles Herz nie mehr ruhig sein würde. Nicht bevor sie nicht auch vom Tod weggeführt würden. Sein Blick schweifte über das ruhige Meer. Hatte Leon sein Grab wirklich in der Tiefe des Atlantiks gefunden? Wieso war er hinausgefahren? Was war geschehen, dass er die Einsamkeit in der unendlichen Weite gesucht hatte?
Caspar fühlte sich so gut wie nie. Die Männer und Frauen, die in der Fischfabrik arbeiteten hingen gespannt an seinen Lippen. Stumm standen sie im Hof vor der groÃen Halle und lauschten seinen Worten. Seine Stimme war voll und klar, als er ihnen mitteilte, dass sein Vater zwar vermisst sei, dass man aber nicht davon ausgehe, dass er nicht mehr lebe.
»Meine Mutter und ich geben die Hoffnung nicht auf, dass Leon Menec schon bald wieder gesund unter uns weilen wird. Bis dahin bitte ich euch alle, im Sinne meines Vaters weiterzuarbeiten. Bis zu seiner Rückkehr werde ich mich um die laufenden Geschäfte kümmern. Und ich hoffe dabei sehr auf eure Unterstützung. Denn, wie ihr wisst, bin ich ja neu in dem Geschäft â¦Â«
Es war eine Welle der Sympathie, die er zu spüren glaubte. Vermutlich waren die Leute froh, wenn in einer so ungewissen Situation wie dieser jemand die Zügel in die Hand nahm. Auch wenn er wenig Erfahrung hatte. Als sich die Versammlung auflöste und die Leute zur Nachtschicht antraten, fuhr ein kleiner Mercedes mit einer deutschen Autonummer in den Hof. Eva stieg aus.
»Caspar.« Ihre Stimme zitterte, als sie ihn fragte, ob er etwas Neues gehört habe. Und wie es ihm gehe. Und seiner Mutter. Sie sah traurig aus, als sie auf ihn zukam und ihn umarmte. Natürlich, sie hatte ja auch ihren Vater
Weitere Kostenlose Bücher