Wilde Wellen
geschafft haben könnte, irgendwie zu überleben? Sabine hatte das gut verstanden. War es ihr doch genauso gegangen. Sie hatte auf das Meer gesehen. Und gehofft, dass es ein Schiff gegeben haben könnte, das Leon aufgenommen haben könnte. Oder dass er es geschafft haben könnte, sich an ein Stück Holz zu klammern.
Jetzt also die Trauerfeier, die keine sein sollte, sondern eher so etwas wie eine Feier von Leons Leben. Sie sagte Eva, dass sie für die Einladung dankte, dass sie aber nicht wusste, ob sie kommen würde.
»Du musst kommen.« Eva lieà nicht zu, dass ihre Mutter sie in so einer Situation allein lieÃ. Es war schon seltsam genug für sie, täglich Claire zu begegnen in dem Haus, in dem sie mit Leon gelebt hatte. Ãberall die Beweise zu sehen, dass hier ein Paar miteinander gelebt hatte, dessen einer Teil ihr Vater gewesen war. Aber sie hatte sich vorgenommen, die Zähne zusammenzubeiÃen und zu tun, was getan werden musste. Da konnte sie von ihrer Mutter auch verlangen, dass sie ihre Pflicht tat. Nicht die Pflicht Claire gegenüber, die gab es nicht. Nicht einmal die Pflicht Leon gegenüber. Aber die Pflicht Eva gegenüber. Sabine hatte die Pflicht, ihrer Tochter zur Seite zu stehen an einem Abend, an dem man ihres toten Vaters gedenken würde.
Sabine fing an zu frösteln. Sie beschloss, sich eine Jacke zu holen und noch ein paar Schritte am Strand spazieren zu gehen. Die Seeluft würde ihr guttun. Vielleicht würde sie auch auf andere Gedanken kommen. Sie lieà die Tür offen und ging durch den groÃzügigen Atelierraum zu dem Stuhl über dem ihre dicke Strickjacke hing. Und blieb plötzlich stehen. War da ein Geräusch? Sie drehte sich um. Alles war wie immer. Wahrscheinlich war drauÃen eine Eule vorbeigeflogen. Sie schlüpfte in die Jacke, suchte nach ihrem Schal, den sie an der Garderobe hängend fand. Sie schlang ihn um sich. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Wie alt war dieser Schal inzwischen? Leon hatte ihn ihr von einer Reise mitgebracht, als sie noch zusammen waren. Sie hatte sich sofort in die leuchtenden Rottöne verliebt, die ihrem Gesicht so eine Frische verliehen. Im Lauf der Zeit hatte sie sich manch einen anderen Schal gekauft, der genauso schön und so warm war wie Leons Schal. Und doch hatte sie sich nicht von ihm trennen können. Wahrscheinlich wird er irgendwann in Fetzen von mir fallen, dachte sie. Und war bei dem Gedanken sofort betrübt. Es war merkwürdig, wie sehr man an vertrauten Dingen hängen konnte. Egal wo es sie auf ihren Reisen hingetrieben hatte, immer war dieser Schal dabei gewesen. Im Flugzeug schlang sie ihn um sich, wenn sie schlafen wollte. In Mexiko hatte sie ihn in den kühlen Nächten wie eine Stola benutzt. Auf ihrer Reise zum Nordkap hatte sie ihn sich nicht nur um den Hals, sondern auch um den Kopf gewunden. Auch Eva hatte sie, als sie noch ein Baby war, oft in den Schal gewickelt. Das Kind war jedes Mal sofort ruhig geworden, wenn es die wärmende rote Wolle um sich gespürt hatte. Es war, als wäre der Schal ein Stück von ihr. Sie wusste nicht, ob das damit zusammenhing, dass er ein Geschenk von Leon gewesen war, das sie immer daran erinnerte wie glücklich sie mit diesem Mann gewesen war? Vielleicht war es auch nur eine alte Gewohnheit, die sie nicht ablegen konnte. Oder wollte.
»Ach Leon.« Sie spürte ihren Erinnerungen nach. Wie schnell die Zeit vergangen war. Vieles war so anders gekommen, als sie es sich als junge Frau vorgestellt hatte. Nicht dass es schlecht gewesen war, was sie erlebt hatte. Im Gegenteil, sie hatte sich eigentlich die meiste Zeit sehr wohl gefühlt in ihrem Leben. Aber dass sie Leon nun nicht mehr wiedersehen sollte, war unfassbar. Wieso begriff man die Endlichkeit des Lebens immer nur in solchen Momenten? Wenn es wirklich vorbei, wenn nichts mehr zu ändern war. Alles, was man irgendwann mal noch hätte sagen wollen, würde nun ungesagt bleiben. Sie fragte sich, ob sie sich Leon gegenüber anders verhalten hätte, wenn sie gewusst hätte, wie kurz die Spanne sein würde, die ihnen noch blieb. Als sie die Tür hinter sich schloss und der stärker werdende Wind in ihr Gesicht schnitt, spürte sie, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Nur wegen des Windes? Oder war es diese entsetzliche Trauer, die sie in sich fühlte, die sie weinen lie�
Merlin hatte seinen Kopf schwer auf Maries
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