Wilde Wellen
Summe, die er offenbar heimlich für sie beiseitegelegt hatte. Was sie ins Herz traf, war die Tatsache, dass er an sie gedacht hatte. Dass er ihr offensichtlich etwas Gutes tun wollte. Und wenn es nur um Geld ging. Das Wichtigste aber, was sie entdeckt hatte, war, dass Leon von diesem Konto vor Kurzem die Summe von einer Million Euro abgehoben hatte. In bar. Und dieses Geld war nirgendwo wieder aufgetaucht. Eine Million Euro? Eva hatte sich sofort mit dem Direktor von Leons Bank verbinden lassen. Aber der hatte sich zum einen auf das Bankgeheimnis berufen und zum anderen, nach Evas dringender Nachfrage, schlieÃlich durchblicken lassen, dass Leon auch ihm nicht gesagt hatte, wozu er das Geld brauchte. Die einzige Idee, die Eva hatte, war, dass Leon das Geld genommen hatte und sich doch abgesetzt hatte. Er könnte den Unfall vorgetäuscht haben und nun mit diesem Geld an irgendeinem fernen Ort ein neues Leben führen. Aber war eine Million nicht sehr wenig? Angesichts es immensen Vermögens, das Leon besaÃ? Sie musste mit Caspar reden. Möglicherweise hatte er eine Vorstellung, wozu Leon das Geld gebraucht hatte.
»Traktoren? Die Helena hatte fünfzig Traktoren geladen, als sie unterging? Ich dachte, sie sei ein Fischtrawler gewesen?« Marie war überrascht, als Christian Fandang ihr den Versicherungsschein vorlegte, mit dem belegt wurde, dass Leon Menec die Ladung der Helena mit einer Summe von damals fünfundzwanzig Millionen Francs versicherte hatte. Aber es kam noch viel heftiger. Die Traktoren waren eine Lieferung der Firma LaRue aus Quimper. Leons Schiff hatte sie nach Irland verschiffen sollen. Leon hatte Geschäfte mit François LaRue gemacht? Dem verstorbenen Mann von Florence LaRue?
»Das war damals gar nicht unüblich, dass Fischtrawler auch Transporte fuhren«, wusste Monsieur Fandang zu berichten. Es sei die Zeit der Fischereikrise gewesen. Viele Fischer hatten plötzlich um ihre Existenz bangen müssen und hatten sich mit Transporten über Wasser gehalten. Das klang in Maries Ohren logisch und nachvollziehbar. Und trotzdem. Dass Leon ausgerechnet die Traktoren für François LaRue transportiert hatte? Ihre Alarmglocken klingelten so laut, dass sie vergaÃ, weswegen sie eigentlich nach Brest gekommen war. Ob sie wollte oder nicht, wenigstens dieser Spur musste sie noch nachgehen. Ob sie allerdings Paul etwas davon erzählen würde, wusste sie noch nicht. Vielleicht würde sich ja alles als harmlos erweisen. Dann würde sie das Kapitel Helena beruhigt abschlieÃen.
Auf den StraÃen war der Schnee inzwischen getaut. Paul konnte die Fahrt zum Menhir genieÃen. Wie er es schon öfter getan hatte, nahm er die NebenstraÃe, die an den Klippen entlangführte. Er liebte den Blick aufs Meer, das sich an diesem Tag strahlend blau gegen den Schnee abhob, der die Wiesen und sogar den Strand noch bedeckte. Vielleicht war er ein bisschen zu schnell. Vielleicht übersah er auch einen Rest Schnee, der noch auf der StraÃe lag. Als die Kugel ihn traf, riss es ihn in voller Fahrt von der Maschine, und er flog über die Klippe. Instinktiv griff er nach den Zweigen eines Ginsterbuschs, die wie die langen, dünnen Arme einer Qualle über die Felsen hingen. Tief unter ihm brodelte das Meer. Jetzt erst spürte er den brennenden Schmerz in seiner Brust. Das warme Blut rann in Strömen über seinen Körper. Es dauerte einen Moment, bis er begriffen hatte, was geschehen war. Jemand hatte auf ihn geschossen. Er hatte die Herrschaft über sein Motorrad verloren, und nun hing er an einem fadendünnen Ast über dem Abgrund. Seine FüÃe tasteten nach einem Halt. Panik stieg in ihm auf. War das das Ende? Wenn der Ast, an den er sich klammerte, brach, hatte er keine Chance. Sein Körper würde am Fuà der Klippen zerschellen.
»Hilfe!« Wie sollte ihn hier jemand hören? Zu dieser Tageszeit und vor allem bei diesem Wetter war doch kein Mensch auf den Klippen unterwegs. Er wusste, dass es sinnlos war, gegen das Rauschen des Meeres anzuschreien. Aber hatte er eine Wahl? Aus eigener Kraft würde es ihm nicht gelingen, sich zu retten.
»Hilfe.« Ein Mensch wenigstens musste in der Nähe sein. Derjenige, er auf ihn geschossen hatte. Ein Jäger, der auf einen Hasen gezielt hatte? In diesem Fall würde er doch versuchen, ihm zu helfen. Aber niemand tauchte auf. Der Ast gab langsam nach. Lange würde es nicht mehr
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