Wilde Wellen
dauern, bis er brach. Jetzt spürten seine Zehen einen winzigen Felsvorsprung. Doch sie rutschten davon ab. Zu glitschig waren die Klippen von der ständigen Gischt des Meeres.
»Ist da jemand? Helfen Sie mir?« War da nicht ein Schatten über ihm? Da musste doch jemand sein.
»Hier bin ich. Helfen Sie mir. Ich kann mich nicht mehr lange halten.« Die Kraft in seinen Armen lieà nach. Nicht mehr lange und er würde abstürzen.
Caspar lächelte zufrieden. Als er sah, wie Paul Racine von seinem Motorrad katapultiert und mit Schwung über die Klippen geschleudert wurde, hatte sein Herz einen Sprung gemacht. Dieses Problem war gelöst. Paul Racine war Geschichte. Er trat näher an die Klippe. Einen Blick wollte er auf die zerschmetterte Leiche des Mannes werfen, der ihm sein Glück hatte streitig machen wollen. Nicht mit ihm. Mit ihm machte man so etwas nicht. Er war nicht der Mann, der tatenlos zusah, wie seine Pläne von einem Fremden torpediert wurden. Als er Pauls Hilferuf im Tosen der Wellen vernahm, erstarrte er. Wieso lebte dieser Mensch noch? Er sollte tot auf den Felsen liegen.
»Ich weiÃ, dass da jemand ist. Helfen Sie mir doch.« Caspar sah die weiÃen Knöchel von Pauls Hand, die sich an den Ast des Ginsterbusches klammerte. Mit einem Tritt könnte er ihn erlösen. Aber wieso eigentlich? Sollte er doch noch ein paar Minuten leiden, bis ihn endgültig die Kraft verlieÃ. Ein paar letzte Minuten, in denen er sich fragen konnte, was er falschgemacht hatte. Ob er erkennen würde, wer sein Richter war? Ob er begreifen würde, dass es Caspar war, den er gestern bei Claires Feier mit keinem Blick beachtet hatte? Vielleicht sollte er sich ihm zeigen? Paul Racine würde sterben in der Erkenntnis, dass es nicht ungesühnt bliebe, wenn man sich mit Caspar Menec anlegte.
»Ich kann mich nicht mehr halten. Bitte, wer auch immer da oben ist, helfen Sie mir.« Nein. Er sollte sterben mit der Ungewissheit darüber, wer ihm das angetan hatte. Er sollte in die Tiefe stürzen und noch im Fallen darüber nachdenken, wer dieses unerwartete Ende herbeigeführt hatte. Caspar trat von der Klippe zurück. Adieu, Monsieur Racine. Fallen Sie gut. Er hatte jetzt Besseres zu tun, als auf den endgültigen Absturz seines Feindes zu warten.
Sabine hatte frische Croissants geholt und Kaffee gemacht. Nach dem Frühstück würde sie Leon wegschicken. Sie wollte die Verantwortung für sein Versteckspiel nicht weiter tragen. Sie klopfte an die Tür des winzigen Gästezimmers, in dem sie ihn untergebracht hatte. Als sie keine Antwort bekam, trat sie ein. Und sah, dass Leons Bett leer war. Sollte er gegangen sein, ohne sich zu verabschieden? Der Leon, den sie von früher kannte, hätte das nicht getan. Aber der Mann, den sie ein paar Tage beherbergt hatte? Der ihr so fremd erschien? Ob er sich wohl endgültig aus dem Staub gemacht hatte? Oder war er schon auf dem Weg zum Schloss?
»Fünfzig Traktoren?« Das faltige Gesicht des alten Mannes verzog sich zu einem zahnlosen Grinsen. »Da hat man Ihnen aber einen Bären aufgebunden. Fünfzig Traktoren, das wäre ja mehr als eine Jahresproduktion gewesen. Sie müssen sich irren, Mademoiselle. Fünf vielleicht oder zehn. Aber niemals hatte François den Auftrag gehabt, fünfzig Traktoren nach Irland zu liefern.«
Marie hatte am Stadtrand von Quimper nach der Traktorenfabrik LaRue gesucht. Doch an der angegebenen Adresse hatte sie nur noch eine verlassene, von Unkraut und Rosen überwucherte Ruine gefunden. Was hatte sie erwartet? Sie wusste doch, dass François LaRue vor fünfundzwanzig Jahren die Bretagne verlassen hatte und in Paris zu einem der erfolgreichsten Bauunternehmer des Landes geworden war. Hatte sie wirklich gedacht, dass sie ein florierendes Unternehmen vorfinden würde, in dem man ihr auch noch gestattete, sich die Buchhaltungsunterlagen des letzten Vierteljahrhunderts anzusehen? In dem Moment, als sie sich enttäuscht abwenden wollte, hatte sie der alte Mann angesprochen. Natürlich kannte er François. Sein Sohn war mit ihm in die Schule gegangen. Und er selbst hatte als Mechaniker in Françoisâ Fabrik gearbeitet, bis er sie aufgegeben hatte.
»Es waren gute Traktoren, die wir gebaut haben.« Françoisâ Vater hatte die Fabrik damals aufgebaut aus dem Nichts. Eine Schande, dass der Sohn sie dann einfach aufgelöst hatte, um in
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