Wilde Wellen
Morgen. Die Düsternis der letzten Tage war einer blendenden Helligkeit gewichen, die wie ein Zeichen war für das Neue, das nun zu geschehen hatte.
Denn dass etwas geschehen musste, war mit einem Mal allen klar. Claire wusste genauso, was zu tun war, wie Caspar. Leon war entschlossen, seinen Weg endlich zu gehen. Paul und Marie, die sich vergnügt und unbekümmert mit Merlin eine Schneeschlacht geliefert hatten, beschlossen jeder für sich, die Vergangenheit, die sie so schwer belastet hatte, endgültig ruhen zu lassen. Es war die Gegenwart, die wichtig war. Die Zukunft, er sie optimistisch entgegensahen. Alles, was gewesen war, würden sie hinter sich lassen.
Im Gegensatz zu den Autofahrern, die mit den Schneemassen nicht zurechtkamen, lenkte Paul, der es gewohnt war, bei jedem Wetter und allen StraÃenverhältnissen ans Ziel zu kommen, sein Motorrad vorsichtig über die kleinen NebenstraÃen nach Brest. Er setzte Marie in der Nähe der Anwaltskammer ab. In der Nacht hatte sie beschlossen, nicht mehr als Polizistin zu arbeiten. Sie würde eine Anwaltskanzlei eröffnen. Nicht nur in ihrem privaten Leben, sondern auch was ihre berufliche Zukunft betraf, sollte es einen wirklichen Neuanfang geben. Nach einem langen, innigen Kuss verabredeten sie, sich heute Abend bei Michel zu treffen und ihm von ihren Plänen zu berichten. Paul würde nach einem kurzen Abstecher in der Uni hinaus zum Menhir von Kerloas fahren. Er war gespannt, ob sich die Messungen, die er bisher vorgenommen hatte, unter der EbenmäÃigkeit der Schneedecke verifizieren würden. Als Marie sich noch einmal umdrehte und Paul nachsah, der sein Motorrad vorsichtig durch den Matsch lenkte, in den sich der Schnee inzwischen in der Stadt verwandelt hatte, lächelte sie glücklich. Alles würde gut werden. Sie ging die StraÃe entlang auf das Gebäude er Anwaltskammer zu. Und gerade, als sie es fast erreicht hatte, blinkte ein Sonnenstrahl, der sich seinen Weg durch die enge Häuserschlucht gesucht hatte, auf und blendete sie. Sie kniff die Augen zusammen und entdeckte verblüfft, dass sie genau vor einem Haus stand, in dem die Versicherung Universal Assurance ihre Brester Dependance hatte. Die Versicherung, bei der Leon Menec damals die Helena versichert hatte. Sie schüttelte den Kopf. Nein, das war kein Zeichen, das war nur Zufall. Sie würde nicht hineingehen. Sie würde nicht nach dem Unfall der Helena fragen. Das alles gehörte der Vergangenheit an. Schon lag ihre Hand auf dem Türgriff. Die Tür ging auf. Und Marie betrat das Büro von Christian Fandang, dem Leiter des Brester Büros der Universal Assurance.
Eva wartete vergeblich in Leons Büro auf Caspar. Sie erinnerte sich nicht daran, dass er ihr gesagt hätte, dass er an diesem Vormittag einen Termin auÃerhalb hätte. Sie versuchte, ihn auf dem Handy zu erreichen. Doch da schaltete sich immer nur die Mailbox ein.
»Ich muss dich sprechen, Caspar. Es ist wichtig. Ruf mich an. Oder komm an besten gleich ins Büro.« Sie musste mit ihm über diese merkwürdigen Entdeckungen reden, die sie gemacht hatte, als sie am Morgen die Bücher durchgegangen war. Dabei hatte alles, was sie in den letzten Tagen gesehen hatte, sehr gut ausgesehen. Die Zahlen waren gut. Umsätze und Einnahmen hervorragend. Die Firma stand seit Jahren schuldenfrei da. Mit jährlich steigenden Gewinnen. Aber heute war sie auf ein Konto gestoÃen, das sie stutzig machte. Es war ganz offensichtlich ein privates Konto. Die Auszahlungen waren immer direkt von Leons Computer ausgegangen. Hatten sich, wie Eva sofort überprüft hatte, nicht in Célines Dateien niedergeschlagen. Das an sich wäre nicht ungewöhnlich gewesen. Im Gegenteil, wieso sollte Leon kein privates Konto führen? Monatliche Summen waren davon abgebucht worden für einen Verein zur Unterstützung Hinterbliebener verunglückter Seeleute, aber auch, was Eva nicht nur überraschte, sondern ihr die Tränen in die Augen trieb, regelmäÃige Zahlungen auf ein Konto, dessen Codewort »Eva« war. Konnte es sein, dass ihr Vater ein Konto für sie eingerichtet hatte, von dem niemand etwas wusste? Auf dem mehr als drei Millionen Euro lagen? Wieso hatte er das gemacht? Wenn er sie doch von ihrem Erbe ausgeschlossen hatte. Ob Claire und Caspar davon wussten? Es war seltsam, wie sehr diese Entdeckung Eva berührte. Es ging ihr gar nicht um die hohe
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