Wilde Wellen
ganz ehrlich zu sein, dann wäre es ihm nicht schwergefallen zu sagen, dass er sie liebte. Denn das war die Wahrheit. Er hatte niemals aufgehört, sie zu lieben. Sie hatten sich getrennt. Vor allem deswegen, weil es Sabine mit ihm nicht mehr ausgehalten hatte.
»Ich kenne dich nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, was in dir vorgeht. Ich habe das Gefühl, dass du mich überhaupt nicht mehr an deinem Leben teilhaben lässt.« Sie hatte recht gehabt. Nach dem Untergang der Helena hatte er sich in die Arbeit gestürzt. Alle Kraft, die er hatte, hatte er dazu verwandt, sich und der Welt zu beweisen, dass er kein Versager war. Und vor allem kein schlechter Mensch.
Bin ich ein schlechter Mensch, Sabine? Viele Jahre nachdem sie getrennte Wege gegangen waren, hatte er in ihrem Garten gesessen, bei einer Tasse Kaffee, und hatte ihr diese Frage gestellt. Voller Angst, was sie darauf antworten würde.
»Das bist du«, hatte sie ohne zu zögern gesagt. Und dabei gelächelt. Noch heute sah er ihre farbverschmierte Hand, die sie auf die seine legte. Hörte ihre Stimme mit dem warmen Timbre. Sah ihren spöttisch-liebevollen Blick mit dem sie ihm bis in die Tiefe seine Seele gesehen hatte. »Du bist ein schlechter Mensch. Wie wir alle in gewisser Weise schlechte Menschen sind. Weil es gar nicht anders geht. Kein Mensch kann nur gut sein. Oder doch, ein Einsiedler vielleicht, der irgendwo in einem fernen Gebirge weit weg von den Menschen in einer Höhle haust. Aber auch er, wenn er beschlieÃt, nicht mehr nur Kräuter und Früchte zu essen, sondern mal diesen Hasen zu schlachten, den er ein ganzes Frühjahr voller Freude beobachtet hat, wird zu einem schlechten Menschen. Weil er das Tier nicht tötet, um sein Ãberleben zu sichern, sondern einfach nur, weil er die Schnauze vollhat von der vegetarischen Küche und endlich mal wieder ein Stück Fleisch zwischen die Zähne bekommen will.« Sie hatte sich lustig über ihn gemacht. Hatte ihm signalisiert, dass solche Gedanken müÃig sind. Koketterie möglicherweise. »Es geht nicht darum, ob dich irgendjemand für einen schlechten Menschen hält. Es geht darum, ob du denkst, dass du etwas in deinem Leben besser machen könntest.« Und damit hatte sie ihn allein gelassen. Und er war sicher, dass sie gewusst hatte, dass das nicht das gewesen war, was er sich von ihr gewünscht hatte. Denn im Grunde wollte er Absolution von ihr. Vergebung. Für die Sünden, die er begangen hatte. Nicht nur seiner Tochter Eva gegenüber. Aber das konnte sie nicht. Sie konnte ihm nicht vergeben. Und selbst wenn, und das wusste Sabine vermutlich genau, selbst wenn sie ihm vergeben hätte, wären immer noch die Schuldgefühle geblieben, die er sich machte. Und die nicht verschwinden würden, solange er lebte.
Leon hatte nicht gemerkt, dass die Musik längst verstummt war. Er saà in der völligen Dunkelheit des Ateliers. Sabine hatte ihn gefragt, wieso er zu ihr gekommen war. Er hatte eine Frau, einen Sohn. Menschen, die ihn liebten und um ihn trauerten. Aber er war zu ihr gekommen. Weil sie die Einzige war, die nicht von seinem Tod profitieren würde? Weil sie die Einzige war, die wusste, was er zu tun hatte? Sie hatte es immer gewusst. Und sie hatte ihn nie gedrängt. Sie hatte ihm keinen Vorwurf gemacht. Hatte ihm nicht gesagt, was sie für richtig oder falsch hielt. Jetzt, in dieser dunklen Stunde, in der die Menschen, von denen er annahm, dass sie ihn liebten, um ihn trauerten, jetzt, zum ersten Mal konnte er sich eingestehen, dass er deswegen nicht aufgegeben hatte, als das Meer ihm die Chance geboten hatte, einfach aus diesem Leben zu verschwinden. Er hatte nicht deshalb um sein Leben gekämpft, weil er so sehr daran hing. Er hatte es nicht verlassen können, weil er es nicht wagte mit der Schuld, die er auf sich geladen hatte, vor seinen Richter zu treten, von dem er nicht einmal wusste, ob er wirklich an ihn glaubte. Als er sich auf der Yacht davongemacht hatte, war es tatsächlich eine Flucht gewesen. Eine Flucht vor der Erkenntnis, dass der einzige Mensch, den er mit seinem ganzen Herzen liebte und von dem er angenommen hatte, dass er diese Liebe erwiderte, ihn betrogen hatte. Hintergangen. Erpresst. Sein Sohn Caspar, den er für das Licht seines zweiten Lebens gehalten hatte, viel mehr als Claire das je hätte sein können. Dieser Junge, dem er jeden Wunsch, wie groà oder absurd oder
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