Wilde Wellen
Stimme auf der Mailbox. Liebenswürdig forderte er den Anrufer auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Er würde zurückrufen so schnell er konnte.
»Geht es dir gut, Liebster? Ich muss dir was erzählen. Ich glaube, ich habe das Geheimnis der Helena gelüftet. Ich bin auf dem Weg zu meinem Vater. Dort werde ich dir alles erzählen.«
Sie zwang sich, ein paarmal tief durchzuatmen. Paul ging es gut. Natürlich ging es ihm gut. In zwei Stunden würde sie ihn im Café du Port treffen. Und sie würden Michel fragen, was damals wirklich auf der Helena geschehen war.
Leon Menec. Einen irrsinnigen Augenblick lang glaubte Paul Leons Gesicht in dem alles einhüllenden Nebel zu sehen. War es seine Hand, die in letzter Sekunde nach ihm gegriffen hatte? Leon Menec war tot. Dessen war Paul sich sicher. Also musste er auch tot sein.
»Ruhig. Seien Sie ganz ruhig. Gleich ist es vorbei.« Als es ihm schwarz vor den Augen wurde, spürte er einen grellen Schmerz in seiner Brust. Hörte seinen eigenen gellenden Schrei. Und dann war alles ruhig. Alles war gut. Nichts tat Paul Racine mehr weh. Mit einem tiefen Seufzer fiel er in einen bodenlosen Abgrund. Der Mann, der sich über ihn beugte, lächelte. Célines Sohn hatte wahrhaftig einen Schutzengel gehabt, der ihn, als er die Schwelle des Todes schon fast überschritten hatte, im letzten Moment behütet hatte.
Claire setzte mit raschem Schwung die Unterschrift unter das Schriftstück, das vor ihr lag. »Leon Menec« stand da. Und sie war sich sicher, dass niemand würde beweisen können, dass die Unterschrift nicht von Leon selbst war. Sie hatte die ganze Nacht hindurch geübt. Hatte Leons Unterschrift Hunderte Male nachgeschrieben. Bis sie sicher war, den richtigen Schwung draufzuhaben. Dann hatte sie die Unterschrift freihändig geschrieben. Ein ums andere Mal. Und sie war immer flüssiger geworden. Bis sie tatsächlich aussah, als sei es Leons echte Unterschrift auf dem Testament, das Claire morgen zu Maître Jumas bringen würde.
Sie habe es unter Leons Unterlagen gefunden. Dieses neue Testament. Sicher, der Text, der Caspar zum Alleinerben machte, war mit dem Computer geschrieben. Aber die Unterschrift und das Datum vor zwei Wochen würden ausreichen als Beweis, dass Leon alles, was er besaÃ, seinem Sohn vermachen wollte. Da Eva immer davon ausgegangen war, dass ihr Vater sie enterbt hatte, würde sie das Testament auf keinen Fall anfechten. Und andere Erben gab es nicht. Jedenfalls keine offiziellen. Alles würde in Ordnung kommen, so wie es Leon gewollt hatte. Zwar würde es noch eine Zeit dauern, bis sie ihren Mann endgültig für tot erklären lassen konnte, doch die Tatsache, dass ein gültiges Testament vorhanden war, würde Caspar die Möglichkeit geben, Leons Platz in der Firma endgültig einzunehmen. Claire schenkte sich einen Whisky ein.
»Kann ich auch einen haben?« Claire zuckte zusammen, als sie Caspars Stimme hinter sich vernahm. Hastig schob sie das Testament und die Seiten, die voll waren mit ihren Versuchen, Leons Unterschrift nachzuahmen, unter die lederne Schreibtischunterlage. Wie kam Caspar dazu, Leons Büro zu betreten ohne anzuklopfen? Hatte er alle Manieren vergessen? Doch sie kam nicht dazu, ihren Sohn anzufahren. Wie sah er denn aus? Blass. Das blonde Haar wirr in die Stirn hängend. Er sah aus, als sei ihm der leibhaftige Teufel begegnet.
»Wo bist du gewesen? Eva hat hundertmal angerufen, weil sie dich sprechen will.« Sie reichte ihm ein Glas, das er in einem Zug austrank.
»Ich habe dich etwas gefragt. Du bist jetzt der Chef, Caspar, du kannst nicht einen ganzen Tag untertauchen, ohne dass irgendjemand weiÃ, wo du bist.«
»Ich hatte zu tun, Maman. Glaub mir, es war wichtig.«
Er schenkte sich einen weiteren Whisky ein. Nahm aber dieses Mal nur einen kleinen Schluck. Er strich sich das Haar aus der Stirn. Und da wieder dieses Lächeln, mit dem er sie bezaubert hatte, seit er ein kleiner Junge war.
»Hast du gehört, dass Paul Racine tot ist?« Claire zuckte zusammen. Sollte das wahr sein? War das Glück ihr auch in dieser Sache endlich hold?
»Er ist mit dem Motorrad im Schnee ausgerutscht und über die Klippen gestürzt. Jemand hat es wohl beobachtet und die Polizei alarmiert.«
»Mein Gott. Das ist ja furchtbar. Arme Marie. Ich hatte den Eindruck, dass sie sehr in Monsieur Racine verliebt ist. Hat es ihr
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