Wilde Wellen
vermessen er auch gewesen wäre, erfüllt hätte, dieser Junge hatte ihn erpresst. Es war nicht das Geld, um das es Leon ging. Es war diese bittere Erkenntnis, dass sein Sohn ihm nicht vertraute. Dass er lieber zum Verbrecher wurde, als seinen Vater um etwas zu bitten. Wenn Claire es gewesen wäre, die er sicherlich liebte, wäre er nicht so tief getroffen gewesen. Claire mit ihren Wünschen und Absichten war für ihn ein offenes Buch. Für sie gab es nur Caspar und für ihn würde sie wie eine Löwenmutter alles tun. Vermutlich wäre sie sogar eines Verbrechens fähig. Aber Caspar? Der liebenswürdige Junge? Leons Enttäuschung darüber, dass er ihn nicht kannte, war mindestens so groà wie seine Verbitterung darüber, dass sein Sohn ein Erpresser war. Was hätte er anderes tun sollen, als einfach wegzugehen? Sicher, sein Anwalt hätte gesagt, zeig ihn an. Claire hätte gesagt, vergib ihm. Michel hätte gesagt, zeig ihm, dass du ihn liebst. Céline hätte gesagt, denk nicht an dich. Denk daran, dass du sein Vater bist. Und immer sein wirst. Egal was er dir antut. Und egal was du ihm antust.
Und Sabine hätte ihn daran erinnert, dass er schon seine Tochter verloren hatte. Er hatte mit niemandem geredet. War einfach weggelaufen. Und als der Sturm kam, hatte er sich in sein Schicksal ergeben. Und er hatte überlebt. Um jetzt, endlich, zu begreifen, dass es nicht um Caspar ging. Nicht um Claire. Nicht um Sabine. Nicht um Michel. Es ging allein um die Frage seiner eigenen Schuld. Die nicht dadurch aufgewogen wurde, dass sein Sohn ihn ins Herz getroffen hatte. Die nicht dadurch gesühnt werden konnte, dass er Michel ein Restaurant kaufte, was letztendlich nichts anderes war, als ihn zum Schweigen zu verpflichten. Und nicht dadurch, dass er sich so sehr bemühte, ein guter Mensch zu sein. Es gab nur einen einzigen Weg für ihn. Nur wenn er ihn ging, würde er Frieden finden. Das wusste er. Aber er wusste auch, dass dann nichts mehr so sein würde wie früher.
6
»Was hast du mit dem kleinen Menec gemacht?« Paul küsste Marie nach jedem Wort auf einen anderen Teil ihres Körpers.
Sie kicherte wie ein Schulmädchen, das gekitzelt wurde.
»Was soll ich mich mit ihm gemacht haben? Ich hab ein paar Mal mit ihm geredet. Er ist irgendwie süÃ.«
»Der Junge ist bis über beide Ohren in dich verknallt. Sag nicht, dass dir das nicht aufgefallen ist.«
»So ein Quatsch. Ich könnte seine Mutter sein.« Nach dem Abend im Schloss, der bei aller Emotionalität auch etwas Absurdes gehabt hatte, in Claires verzweifeltem Versuch, nicht auszusprechen, was alle Anwesenden dachten, nämlich dass der Mann, dessen man sich erinnerte, natürlich nicht mehr am Leben war, waren Paul und Marie ausgehungert übereinander hergefallen. Sie hatten sich auf dem Teppich geliebt und unter der Dusche und waren schlieÃlich erschöpft ins Bett gefallen. Paul spielte den Eifersüchtigen, der es nicht aushielt, dass Marie Caspar Hoffnungen gemacht habe. Die wiederum gab sich empört. Was er denn von ihr denke, sei sie schlieÃlich doch mit ihm so gut wie verlobt und würde keinen Gedanken an andere junge Männer verschwenden.
»Trotzdem, es hatte etwas Verzweifeltes, wie er dich angesehen hat. Und als er dich nicht nach Hause fahren durfte, weil du mit mir gekommen bist, hab ich einen Moment geglaubt, dass er mich gleich niederschlägt.«
»Caspar?« Marie lachte laut auf. Der sanfte Caspar, der noch dazu ganz gefangen in der Trauer um seinen Vater war? Niemals würde er auch nur einer Fliege etwas zuleide tun.
»Und jetzt will ich nicht mehr über andere Männer reden, wenn ich mit dir im Bett bin.« Sie legte sich lachend auf ihn. Und eine Sekunde später hatten sie nicht nur Caspar, sondern auch den Rest der Welt vergessen.
Der erste Schnee hatte ein glitzerndes Tuch über das Land gelegt. Viel zu früh, vollkommen unerwartet, stürzte er das Land am Atlantik, in dem die Menschen milde, schneefreie Winter gewohnt waren, ins Chaos. Die Autobahnen glichen Rutschbahnen, die Flugplätze waren gesperrt, in den meisten Betrieben kamen die Menschen zu spät oder gar nicht zur Arbeit. Während diejenigen, die in ihren Autos in Schneeverwehungen stecken blieben, über die weiÃe Ãberraschung fluchten, konnten sich andere an der strahlenden Pracht gar nicht satt sehen. Alles schien anders an diesem
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