Wilde Wellen
Eltern zum Abitur eins hatten schenken wollen. Doch da hatte er schon seine erste Vespa gehabt, danach eine Motoguzzi und jetzt seit ein paar Jahren die Harley. Seine Mutter hatte immer Angst um ihn gehabt, wenn er mit dem Bike unterwegs gewesen war. Aber Paul hatte ihr versprochen, vorsichtig zu sein. Und mit der Zeit hatte seine Mutter die Nervosität, die sie immer befiel, wenn Paul auf Tour war, zumindest in den Griff bekommen. In der Ferne sah er jetzt den Menhir von Kerloas aufragen. Was für ein gigantisches Monument. Wie immer war Paul tief beeindruckt, wenn er einen dieser mächtigen, geheimnisvollen Zeugen untergegangener Kulturen zum ersten Mal sah. Er hielt an und betrachtete den riesigen Stein. Noch immer rätselten die Wissenschaftler, was diese Steine tatsächlich zu bedeuten hatten. Paul, den seine Forschungen in den letzten Jahren bis nach Asien geführt hatten, arbeitete am Beweis einer Theorie, die besagte, dass die Menhire in Europa, ebenso wie die Steinmonumente, die man in asiatischen Ländern gefunden hatte, mit den astrologischen Theorien ihrer Erbauer zu tun hatten. Noch hatte er die endgültigen Beweise nicht gefunden, aber die Aufsätze, die er über seine Arbeit in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlich hatte, waren von der Fachwelt zumindest interessiert aufgenommen worden. Nicht zuletzt wegen seiner Theorien hatte er auch die Stelle an der Universität von Brest bekommen. Der Dekan des archäologischen Instituts freute sich sehr, mit Paul Racine einen jungen kreativen Wissenschaftler gewonnen zu haben.
In seiner Hand hielt Paul seinen Schlüsselbund, an dem er alle Schlüssel, die für sein Leben wichtig waren, angehängt hatte. Seit einiger Zeit befand an sich an dem Bund auch etwas, das seine Freundin Sara als den puren Kitsch bezeichnet hatte: eine Nachbildung des Menhirs von Kerloas. Eigentlich passte es gar nicht zu ihm, so ein Souvenir, das man hier sicher in jedem kleinen Touristenladen kaufen konnte, mit sich herumzuschleppen. Aber dieser kleine Plastikmenhir war bei den Unterlagen gewesen, die seine Eltern ihm über seine Vergangenheit hinterlassen hatten. Wollten sie ihm damit ein Zeichen geben? Dass er hier in dieser Gegend zu Hause war? Dass er hierherkommen sollte, um nach seinen Wurzeln zu suchen? Doch noch war Paul unschlüssig. Er wusste nicht, ob ihn das, was seine Wurzeln sein konnten, überhaupt interessierte. Was war es denn, was einen Menschen ausmachte? Die Frau, die ihn auf die Welt gebracht hatte? Oder die zwei Menschen, die ihn an der Hand genommen und ihm geholfen hatten, sich in dieser Welt zurechtzufinden? Es war sicher ein Zufall gewesen, aber er hatte seinem Vater, von dem er heute wusste, dass er nur sein Adoptivvater gewesen war, doch ähnlich gesehen. Sie hatten die gleichen widerspenstigen Haare gehabt, Philip Racine dunkel, Paul blond. Den gleichen forschenden Blick auf die Welt. Niemals in seinem Leben wäre Paul auf die Idee gekommen, dass seine Eltern nicht seine leiblichen Eltern gewesen waren. Vom ersten Tag seines Lebens an war er in ihrer Obhut gewesen. Ein geliebtes Kind, dem Philip und Amelie auf unnachahmlich liebenswerte Weise alles nahegebracht hatten, was ihnen für die kurze Dauer, die der Mensch auf Erden weilt, wichtig schien. Wenn er sich heute an der Natur freute und sich um ihre Erhaltung sorgte, war das ihr Verdienst. Dass er Musik liebte, vor allem die Klassiker, hatte damit zu tun, dass Amelie Klavier gespielt hatte und Philip ein Geigenvirtuose war. Dass er ein mitfühlender Mann geworden war, hing mit der groÃen Empathie zusammen, mit der seine Eltern auf alle Lebewesen zugegangen waren. Bessere Eltern, dessen war sich Paul immer sicher gewesen, hätte er nicht haben können. Was also würde er gewinnen, wenn er seine leibliche Mutter fand? Eine Fremde. Die ihn nicht in ihrem Leben gewollt hatte. Einen kurzen Moment lang hatte er geglaubt, dass er diese Frau hasste, als er so unerwartet von ihr erfahren hatte. Er musste sie doch hassen, sie, die ihn nicht gewollt hatte. Aber musste er ihr nicht einfach dankbar sein? Für das Leben mit Philip und Amelie Racine? Der nächste Schritt war gewesen, dass er nicht an sie denken wollte. Dass er einfach so tat, als wisse er nichts von der Existenz von Céline Marchand. Doch da hatte er sich überschätzt. Immer wieder waren seine Gedanken doch zu der Frau geschweift, die ihn geboren hatte. Er konnte nichts
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