Wilde Wellen
war klar: Er war regelrecht verknallt in sie. Und wenn er an seine Zukunft dachte â die hatte so gar nichts mit dem zu tun, was sich seine Mutter für ihn ausgedacht hatte. Er sah sich mit Marie an einem Strand, an den die tollsten Wellen klatschten. Sie würden das Leben genieÃen. Hand in Hand. Und wenn seine Mutter das nicht akzeptierte, konnte er auch nichts machen. Dann würde er eben mit Marie zusammen abhauen. Irgendwo in der Welt würden sie einen Ort finden, an dem sie miteinander glücklich sein konnten.
Claire beobachtete ihren Sohn, der zufrieden neben seinem Vater auf dem Sofa saà und eine Tasse Tee in sich hineinstürzte. Wie sehr hatte sie immer diese Teestunden genossen. Caspar hatte auf dem dicken, hellen Berberteppich mit seinen Bauklötzen gespielt, Leon und sie hatten auf den geblümten Sofas gesessen und über die Firma geredet. Oder über ein Theaterstück, das sie gesehen, oder über ein Buch, das sie gelesen hatte. Es war die schönste Zeit in Claires Leben gewesen. Sie hatte sich am Ziel ihrer Wünsche gefühlt. Einen wunderbaren Mann an ihrer Seite, attraktiv und auch noch reich, einen kleinen hübschen Sohn, ein herrliches Schloss, das ihr Zuhause war. Leons altes Leben mit seiner Exfrau Sabine und seiner Tochter Eva war Lichtjahre entfernt gewesen. Nichts würde ihr Glück mehr trüben, dessen war sie sich damals sicher gewesen. Alles würde so werden, wie sie es für sich und ihren kleinen Sohn erträumte. Kein Schatten hatte über diesen sonnigen Tagen gelegen.
Und dann hatte sie eines Tages durch einen Zufall von der Existenz Paul Racines erfahren. Plötzlich war es ihr gewesen, als hätte sie an einem Abgrund gestanden. Doch sie wäre nicht Claire Menec gewesen, wenn sie zugelassen hätte, dass sie in diesen Abgrund stürzte. Das durfte nicht geschehen. Und sie würde alles tun, um das zu verhindern. Alles.
»Einen Centime für deine Gedanken.« Leon küsste Claire auf die Wange. Sosehr er diese Teestunden mit ihr liebte, er musste zurück in Büro.
»Ach, ich habe nur über das Abendessen nachgedacht.« Leon wusste, dass sie log. Claire wusste, dass er es wusste. Sie grübelten beide über die dunklen Wolken, die unvorhergesehen über ihrem Leben dräuten, fragten sich beide, ob das Ende ihres Glücks unausweichlich war.
»Ich komm mit dir«, sagte Caspar plötzlich unerwartet. Claire sah ihren Sohn verblüfft an.
»Wunderbar. Du wirst sehen, du wirst Spaà haben.«
»Mit totem Fisch?« Caspar verzog das Gesicht. »Vielleicht kann ich Papa ja dazu überreden, den Fischhandel aufzugeben. Wir könnten Kreuzfahrtschiffe chartern und â¦Â«
»Hör auf mit dem Unsinn.«
»War ein Scherz, Maman. Ich liebe tote Fische.« Caspar rannte aus dem Salon. »Nicht weglaufen, Papa, ich zieh mir nur schnell was anderes an.«
Leon und Claire sahen einander an. Er zog sie an sich. Wie sehr er ihren Duft liebte. Wie sehr er dieses Leben liebte, das sie ihm geschenkt hatte.
»Sie muss zurück nach Paris. Du musst mit Michel reden.«
Er verstand die Furcht, die in ihr aufstieg. Er verstand sie nur zu gut. Es war die gleiche Furcht, die er seit ein paar Tagen in sich wachsen spürte. Caspar durfte Marie Lamare nicht zu nahe kommen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Bombe hochgehen und sie alle ins Verderben reiÃen würde.
»Ich liebe dich, Leon. Ich will, dass unser Leben so bleibt, wie es ist.«
Es kam selten vor, dass Claire sich wie ein junges Mädchen an ihn drängte. Leon hielt sie fest umfangen. Er spürte ein leises Zittern.
»Mach dir keine Sorgen, Claire. Der Spuk wird bald vorbei sein.«
»Und wenn Michel zusammenklappt?«
Ja, was würde sein, wenn Michel zusammenklappte?
3
Xavier Leonard pfiff leise durch die Zähne. Die beiden Boardercollies, Sam und James, spitzten die Ohren und reagierten sofort. Sie trieben die kleine Schafherde, die sich zwischen den Menhiren die Gräser schmecken lieÃ, zusammen. Der Schäfer wusste, dass er sich auf seine Hunde verlassen konnte, und ging den Weg an den Klippen entlang. Sein Gesicht, in das das Leben im Freien tiefe Spuren gegraben hatte, verdüsterte sich. Da waren sie wieder. Die Schreie. Die Schreie der toten Seeleute von der Helena . Wenn der Wind vom Meer aufs Land blies, waren sie deutlich zu hören. Manche Leute sagten, das käme davon, dass
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