Wilde Wellen
alles erzählen. Auch wenn er dafür ins Gefängnis wandern würde. Aber noch schien es ihm, als würde das Schicksal ihm eine Gnadenfrist gewähren. Marie blühte tatsächlich langsam auf. Sie hatte sich von ihm überreden lassen, in der Küche mitzuhelfen.
»Besser als nichts zu tun ist das allemal«, hatte er sie beschworen. Und sie hatte genickt. Und sich darauf eingelassen, zusammen mit Marc und Eliane, den beiden Küchenhilfen, in Michels Sterne-Küche mitzuarbeiten.
»Aber ich muss doch einen Beruf haben, Papa. Ich habe doch vor dem Unfall nicht hier bei dir gearbeitet«, hatte sie ihn bedrängt, als sie sich wieder einmal beinahe in den Finger geschnitten hatte. So ungeschickt, wie sie sich in Michels Küche anstellte, konnte es einfach nicht sein, dass sie hier ihr Leben verbracht hatte. Wenn sie etwas über sich erfahren hatte bis jetzt, dann dass sie ganz sicher keine Köchin war.
»Natürlich nicht. Nur in den Ferien hast du hin und wieder ausgeholfen«, hatte er hastig gelogen. »In den Semesterferien, meine ich.«
Er hatte ihr erzählt, dass sie Jura studierte. Und das war nicht einmal gelogen. Denn vor ihrer Ausbildung zur Polizistin hatte sie ein Jurastudium mit Bravour durchgezogen.
»Jura?« Marie hatte ihn verwundert angesehen. Paragraphen, Gesetze â wenn sie sich doch nur erinnern könnte. Aber auch da war diese groÃe Leere.
»Was wollte ich denn nach dem Studium machen? Wollte ich Anwältin werden? Oder Richterin?«
»Ja, Anwältin. Genau.« Er konnte ihr einfach nicht sagen, dass sie Polizistin war. Denn dann brauchte sie einfach nur in eine Polizeistation zu gehen und nach der Polizistin Marie Lamare zu fragen, und der Computer würde alle Informationen über sie ausspucken. Alles würde herauskommen. Dass sie in Paris gelebt hatte. Dass Michel in ihrem Leben keine Rolle gespielt hatte. Er konnte es einfach nicht zulassen. Noch nicht. Sie sollte sich einfach sicher sein können, dass er sie liebte. Dass sie ein Leben mit ihm zusammen gehabt hatte. Ein glückliches Leben. Dass Monique seit ein paar Jahren tot war, hatte er ihr gesagt. Das war unumgänglich gewesen.
»Wir haben wohl sehr um Maman getrauert«, hatte sie traurig gesagt. Traurig vor allem, weil sie sich einfach nicht an ihre Mutter erinnern konnte. Nicht einmal daran, wie unglücklich sie gewesen war, als sie sie verloren hatte.
Eine zweite Chance, ja, das war es für Michel. Nicht mehr und nicht weniger als eine zweite Chance. Sie war so dankbar dafür, dass er für sie da war. Dass er sich um sie sorgte. Sie liebte ihn, wie man einen Vater liebt. Das durfte er nicht verlieren. Das musste er hegen und pflegen. Wenn ihre Erinnerung nie mehr zurückkam, konnten sie zusammenleben bis ans Ende seiner Tage. Sie würden sich aneinander festhalten. Sie würden sich umeinander kümmern. Und wenn Marie sich endlich darauf einlassen würde, nicht mehr um die Vergangenheit, die sie verloren hatte, zu trauern, sondern optimistisch in die Zukunft zu sehen, würde er an ihrer Seite stehen und sie auf ihrem neuen Weg durchs Leben begleiten.
»Ich hatte heute meine erste Surfstunde. Ich hab mich gar nicht so blöd angestellt.« Marie lachte. Sie sah gut aus. Hatte ein wenig Farbe bekommen von den Stunden auf dem Meer.
»Caspar ist ein guter Lehrer.«
Sie hatte Caspar Menec kennengelernt? Michel wusste einen Moment lang nicht, ob das gut oder schlecht war. Gut war es sicher, weil eine Freundschaft mit einem jungen Mann sie vielleicht davon ablenken würde, immerzu über das Vergangene zu grübeln. Aber musste es ausgerechnet Leons Sohn sein? Der natürlich wusste, dass Marie hier nicht gelebt hatte. Was mochte er ihr erzählt haben? Lauernd beobachtete er Marie, die sich daran machte, Karotten in feine Scheiben zu schneiden. Aber wäre sie so ruhig, wenn sie von Caspar tatsächlich etwas erfahren hätte?
»Vielleicht sollte ich nach Paris fahren.« Michel zuckte zusammen.
»Es könnte doch sein, dass ich mich erinnere, wenn ich mir den Ort ansehe, wo der Unfall geschehen ist.«
Nein. Nicht Paris. Nur das nicht. Sie durfte nicht nach Paris fahren. Noch nicht.
»Das ist eine gute Idee. Wenn du wieder ganz fit bist, fahren wir zusammen hin.« Er musste Zeit schinden. Und kam sich dabei so furchtbar schäbig vor.
»Ich bin mehr als eine Stunde gejoggt, dann war ich zwei Stunden
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