Wilde Wellen
den Fischresten, die ihr die Fischer immer mal wieder hinwarfen. Die Ratte, die sich an einem umgeworfenen Abfalleimer gütlich tat, ahnte nicht, dass ihr letztes Stündchen geschlagen hatte. Ein lautloser Sprung, ein quietschend greller Schrei, dann der erlösende Biss in den Nacken. Vorbei.
Marie setzte sich schwer atmend in ihrem Bett auf. Dieser Schrei, kam der aus ihrem Traum? Oder war er real gewesen? Sie öffnete das Fenster, lauschte in die Nacht. Doch da drauÃen war alles ruhig. Nur eine Katze schlich lautlos zwischen den Booten herum, die am Strand aufgebockt lagen. Marie versuchte, sich an ihren Traum zu erinnern. Dieser Schrei â war sie es, die geschrien hatte? Dieses rote Auto â war es das Auto, das sie angefahren hatte? Und da waren diese Augen. Kalte, schwarze Augen, in die sie gesehen hatte. Wem gehörten diese Augen, die ihr so eine Angst einjagten? Jedes Mal, wenn sie diesen Traum hatte, wachte sie schweiÃgebadet auf. Sie war sich sicher, dass er etwas mit ihrem Unfall zu tun hatte. Und trotz allen Grauens, den der Traum in ihr auslöste, hoffte sie jeden Abend, wenn sie zu Bett ging, dass er wiederkam. Und endlich weitergehen würde. Sie wollte wissen, zu wem diese Augen gehörten. War es der Fahrer des Wagens, der sie angefahren hatte? Aber wieso war so ein böser Glanz in diesen Augen? Als wenn der Mensch, zu dem sie gehörten, ihr bewusst etwas antun wollte. Erschöpft legte sie sich in Bett zurück. Sie wollte an etwas anderes denken. Caspar kam ihr in den Sinn. Sein freches Lachen, seine offensichtliche Freude, sie zu sehen. Vielleicht sollte sie sich einfach auf seine Verliebtheit einlassen. Er war nett, dieser Junge. Attraktiv und voller Leben. Vielleicht, wenn sie seine warme Haut auf der ihren spüren, wenn sie seine Lippen küssen, sich einfach seinen Armen überlassen würde ⦠Konnte es nicht sein, dass das die Lösung war? Einfach nach vorne zu sehen? Sich verlieben? Sich eine Zukunft ausmalen? Michel würde sich freuen, wenn sie endlich aufhören würde, nach der Vergangenheit zu suchen. Und, wer weiÃ, vielleicht würde ja alles von selber wiederkommen, wenn sie einfach loslassen würde. Dr. Lorain hatte ihr ja schon im Krankenhaus empfohlen, nicht zu verbissen nach den Erinnerungen zu suchen. Je verkrampfter sie sei, desto geringer sei die Chance, sich zu erinnern, hatte er gesagt.
Aber das war einfacher gesagt als getan. Egal was sie tat â auf Schritt und Tritt verfolgte sie die Sehnsucht nach ihrem alten, unbekannten Leben.
Paul liebte diese stillen Stunden in seinem Büro. Wenn die Nacht alles Leben aus der Universität vertrieben hatte, fühlte er sich dort am wohlsten. Es war ihm dann, als gehöre die ganze Universität mit all dem hier gespeicherten Wissen ihm ganz allein. In der Stille konnte er konzentriert arbeiten, seine Gedanken wurden durch nichts abgelenkt. Voller Vorfreude hatte er angefangen, sich auf seine Vorlesung über die Steingräber in Korea vorzubereiten. Die ersten sechs Stunden standen schon. Jetzt war er dabei, die entsprechenden Fotos auf seinem Computer zusammenzusuchen.
»Oh Entschuldigung, ich wusste nicht, dass noch jemand hier ist.« Die junge Putzfrau in dem rosa Kittel sah ihn erschrocken an, als sie in Pauls Büro hereinplatzte.
»Kein Problem. Ich brauche noch eine Stunde. Vielleicht können Sie ja mein Büro ans Ende Ihrer Runde legen.«
Die Putzfrau nickte scheu und beeilte sich, die Tür hinter sich zu schlieÃen. Paul wandte sich wieder seinem Computer zu, und da poppte plötzlich ein Foto von Céline auf. Das war eigentlich nicht weiter merkwürdig, denn er hatte alle Unterlagen, die er vom Anwalt seiner Eltern über seine Mutter erhalten hatte, in seinem Computer gespeichert. Wie er allerdings jetzt in diese Datei geraten war, war ihm ein Rätsel.
»Moment bitte.« Er öffnete die Tür und ging suchend den Gang entlang. »Ich wollte Sie noch etwas fragen.«
Die Putzfrau steckte ihren Kopf aus einem der angrenzenden Büros.
»Sagen Sie mal, sind Sie von hier?«
Als sie nickte, fragte er sie, ob sie schon einmal etwas von einer gewissen Céline Marchand gehört hatte.
Sie lachte. »Natürlich. Alle hier kennen Céline. Sie ist unsere Druidin.«
Unsere Druidin? Schon wieder dieser Blödsinn.
»Klingt komisch, ich weiÃ.« Die Putzfrau sah ihn vergnügt an. »Wir wissen
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