Wilde Wellen
sie es. Sie wusste, dass sie sterben würde. Sie versuchte, dem Auto, das auf sie zuraste, noch auszuweichen, aber da hatte es sie schon erfasst. Der Aufprall war so heftig, dass sie von ihrem Rad flog. Es schien eine Unendlichkeit zu dauern, bis sie auf dem nassen Asphalt aufschlug. Der Sturm war gekommen. Mit seinem Dröhnen begleitete er Céline Marchand in den Tod. Das Herz schien in ihr zu bersten, als sie als Letztes Paul Racines Stimme zu hören glaubte.
Ich würde Sie gern sprechen, Madame Marchand. Es ist wichtig.
In dem Moment, als das Leben Céline verlieÃ, war eines plötzlich glasklar. Sie wusste, warum Paul Racine sie sprechen wollte. Sie wusste, dass er seine Mutter sehen wollte. Ihr Sohn war gekommen. Aber es blieb ihr keine Zeit, ihm zu sagen, wie sehr sie darunter gelitten hatte, ihn aus ihrem Leben verbannt zu haben.
Paul war sauer. Sie hatte ihn also versetzt. Natürlich. Das Wetter war ja auch viel zu schlecht, um aus dem Haus zu gehen. Er konnte es ihr nicht einmal verdenken. Er stieg auf sein Motorrad. In ein paar Minuten würde er in seinem Haus sein und sich von Marie aufwärmen lassen. Da tauchte aus der Dunkelheit ein weiÃer Schatten auf. Es war ein weiÃer Hund, der geradewegs mit groÃen Sprüngen auf ihn zugelaufen kam. Paul hatte den Hund noch nie gesehen. Trotzdem ging er auf ihn zu. Der Hund stand jetzt hechelnd vor ihm. Bellte ihn mit tiefer Stimme an. Machte kehrt, rannte ein paar Schritte davon. Blieb stehen, sah zu Paul. Als wolle er ihm etwas sagen. Paul verstand nicht. Was wollte der Hund? Merlin kam noch einmal zu Paul zurück. Das Bellen wurde drängender. Wieder lief er davon. Wieder blieb er stehen, wieder sah er Paul an. Und Paul stieg auf das Motorrad und folgte dem Hund langsam. Es war nur ein knapper Kilometer, da sah er, dass der Hund stehen blieb. Das Tier jaulte auf. In einem unsagbar herzzerreiÃenden Ton. Paul stellte das Motorrad ab. Er ging auf den Hund zu. Und da sah er sie. Er sah Céline Marchand auf der StraÃe liegen. Sein Herz setzte aus.
»Céline.«
Er war bei ihr. Kniete sich neben ihren leblosen Körper. Sie sah aus, als würde sie schlafen. Paul tastete nervös nach ihrem Puls.
»Céline.«
Doch die Frau, die seine Mutter war, war tot.
Das Jaulen des Hundes drang wie ein nicht enden wollender Schmerzensschrei durch die Dunkelheit.
2
Marie stand in eine Ecke gedrückt zwischen zwei Häusern und sah auf das Café du Port . Den Regen, der über ihr Gesicht lief, schien sie nicht zu bemerken. Durch die Fenster des hell erleuchteten Restaurants sah sie, wie Michel die ersten frühen Gäste bediente. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie immer, als er einer Frau die Terrine mit seiner Fischsuppe servierte. Sein Lächeln war freundlich wie immer â oder doch nicht? Marie konnte nicht genau ausmachen, ob es nicht doch ein wenig verhaltener war als sonst. Wollte sie überhaupt wissen, ob er vielleicht traurig war? Sie wischte sich den Regen vom Gesicht und drehte sich um, um zu gehen. Sie hatte eingekauft und wollte jetzt nichts anderes, als mit Paul vor dem Kamin zu sitzen. Morgen war auch noch ein Tag. Sie konnte ja morgen wiederkommen und Michel aufsuchen. Oder übermorgen. Oder auch gar nicht. Noch war sie nicht so weit, ihm zu verzeihen. Sie wusste nicht, ob sie es je sein würde.
»Marie?«
In dem Moment, als sie in einer kaum beleuchteten Gasse verschwinden wollte, hörte sie Michels Stimme. Sie drehte sich um. Sah ihn vor dem Restaurant stehen. Er spähte in die Dunkelheit. Ganz sicher konnte er sie nicht sehen. Und rief trotzdem noch einmal nach ihr. Sie trat aus dem Schatten der Häuser. Das fahlgelbe Licht einer StraÃenlaterne fiel auf sie.
»Kind. Um Gottes willen, du bist ja ganz durchnässt.« Er war schon bei ihr. Sah sie an. Unendliche Erleichterung in seinen Augen.
»Willst du nicht hereinkommen und dir etwas Trockenes anziehen?« In seinen Augen stand die Angst geschrieben, dass sie Nein sagen würde. Jetzt lief auch ihm der Regen übers Gesicht. Vermischte er sich mit seinen Tränen? Sie sah ihn an. Und konnte nichts sagen. Konnte sich nicht bewegen. Sie standen voreinander. Es gab plötzlich keine Worte, die sie einander hätten sagen können.
»Michel!«
Violettes Stimme drang aufgeregt in die Nacht.
»Es ist etwas passiert. Céline Marchand hatte einen Unfall. Sie ist tot.«
Es zerriss Marie
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