Wilde Wellen
sich seinen Frust nicht anmerken. Aber er war sich sicher, dass schwere Zeiten auf ihn zukommen würden. Er würde ganz schön geschickt sein müssen, wenn er sich aus dem Netz, das seine Mutter eng um ihn zuzog, noch einmal herauswinden wollte.
4
Sabine du Maurier stand an ihrer Staffelei. Kurz nachdem sie von Célines Tod erfahren hatte, hatte es sie gedrängt zu malen. Auch wenn der Kontakt zu Leons Sekretärin nach ihrer Scheidung sehr viel lockerer geworden war, trauerte sie um sie. So ein plötzlicher Tod lieà niemanden kalt. Und wenn man dadurch nur an die eigene Sterblichkeit erinnert wurde. Daran, dass man es nicht in der Hand hatte, jeden Augenblick unerwartet aus dem Leben gerissen werden zu können. Wie es Leon wohl ging? Sie hatte Mitleid mit dem Mann, mit dem sie einmal verheiratet gewesen war. Es musste furchtbar für ihn sein, seine engste Vertraute verloren zu haben. Sie hatte es nicht geplant, und doch erstand auf der Leinwand vor einem hellen Hintergrund aus Wolken und Meer das Gesicht von Céline. Als wäre es Sabine ein spontanes Bedürfnis, der Toten ein Denkmal zu setzen. Es war ein stilles Bild, das Ruhe ausstrahlte und eine gewisse Traurigkeit, die sich vor allem im umschatteten Blick von Célines dunklen, fragenden Augen ausdrückte. Es stand im totalen Gegensatz zu den farbenfrohen, lebenssatten Bildern, die sie in Mexiko gemalt hatte und die sie in ein paar Tagen der Ãffentlichkeit präsentieren wollte. Aber durfte sie das überhaupt? So kurz nach Célines Tod eine Vernissage machen? Wäre das nicht pietätlos?
Genau dasselbe hatte sich Michel gefragt, als er am Morgen, wie ausgemacht, ein paar Kostproben seiner Kochkunst für Sabine zusammenstellte.
»Ich glaube nicht, dass Céline gewollt hätte, dass ich die Vernissage verschiebe.«
Als Sabine Michel mit seinem Tablett voller Köstlichkeiten in ihr lichtdurchflutetes Atelier mit dem Blick auf den Atlantik lieÃ, erschrak sie über den Ausdruck von Hoffnungslosigkeit in seinem Blick.
»Wir müssen den schrecklichen Ereignissen etwas entgegensetzen, Michel. Etwas, das zeigt, dass wir am Leben sind und dass ⦠ja, dass wir uns auch an diesem Leben freuen.«
Michel reichte ihr ein Schälchen mit Linsengemüse.
»Linsen mit geräucherten Kalbsbäckchen.«
Sie probierte alle Vorschläge nacheinander durch, und wie immer war sie begeistert von Michels Kreativität, die eine gewisse bretonische Bodenständigkeit mit Ansätzen moderner Kochkunst originell zu verbinden verstand. Michel freute sich über Sabines Lob, gewiss, doch es war, als erreichte es sein Herz nicht. Er verstand selbst nicht, wieso er dermaÃen erschüttert war. Céline war eigentlich nur eine Bekannte gewesen. Vertrautheit oder gar eine freundschaftliche Nähe hatte es zwischen ihnen nicht gegeben. Und doch, ihr Tod machte ihn bange. Was hatte sie für ein Leben geführt? Nur der Arbeit bei Leon und ihrer merkwürdigen Gabe verschrieben. Einsam in dem kleinen Haus am Strand, nur mit einem Hund als Lebensgefährten?
»Manchmal habe ich das Gefühl, das alles sinnlos ist. Was soll das eigentlich, diese paar Jahre, die einem gegeben sind? Ist das nicht alles nur ein groÃer Krampf? Man bemüht sich, alles richtig zu machen, und verbringt die Jahre damit, die Fehler, die einem unterlaufen sind, wiedergutzumachen oder zu vertuschen. Was bleibt von jemandem wie Céline? Die nicht einmal in einem Kind weiterleben wird?«
»Was von ihr bleibt, bestimmen wir. Sie hat mitten unter uns gelebt. Sie war ein Teil von uns. Wir müssen achtsam mit der Erinnerung an sie umgehen.«
»Hast du jemals das Gefühl gehabt, sie wirklich zu kennen? Wie kann sie ein Teil von uns gewesen sein, wenn wir nichts über sie wissen, auÃer dass sie hier gelebt hat?« Sabine erkannte, dass es Michel nicht nur um Céline ging. Er fragte sich, woran sich die Menschen erinnern würden, wenn er einmal tot sein würde. Sicher, eine Zeitlang würde man an seine Kochkunst denken, daran, wie gern und gut man bei ihm gegessen hatte. Aber woran würde der einzige Mensch, bei dem es ihm wirklich wichtig war, denken? In Maries Gedächtnis würde er als Lügner weiterleben. Als der Mann, der so wenig wert war, dass ihre Mutter ihm den Kontakt mit ihr untersagt hatte.
»Ich habe gehört, sie ist zurückgekommen.«
Michel schrak aus seinen
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