Wilde Wellen
Gedanken.
»Das ist ein gutes Zeichen, Michel. Lasst euch Zeit. Geht behutsam miteinander um. Und vor allem, erzähl ihr einfach, was damals passiert ist zwischen dir und Monique.«
AuÃer Leon, Michel und Claire, der Leon in einer schwachen Stunde vor vielen Jahren alles gestanden hatte, wusste niemand die ganze Wahrheit über die Tragödie der Helena . Vielleicht hatte Céline Bescheid gewusst, das war möglich. Aber sie hätte niemals etwas verraten. Dazu war ihre Loyalität Leon gegenüber viel zu groà gewesen.
»Erzähl ihr, was passiert ist.« Sabine hatte keine Ahnung, was sie da vorschlug. Die Wahrheit würde ihn auch nicht retten können.
Als hätte es nie gestürmt, spannte sich der Himmel postkartenblau über die Bretagne. Die Farben des Meeres, des Sandes, der letzten Hortensien, der Steine leuchteten fast zu grell in dem Licht nach dem Sturm. Claire atmete zufrieden die glasklare Luft ein, als sie ihre morgendliche Joggingrunde am Meer entlang machte. Sie hielt an, als sie die Raben sah, die über dem Reetdach von Célines Haus schwebten, das in die Dünen geduckt lag, als wäre nichts geschehen.
Im Haus war es ganz still. Durch die kleinen Fenster fiel das Sonnenlicht in Streifen auf die wundersamen Dinge, die Céline gesammelt hatte. Auf Kräuterbuschen, die von der Decke hingen und ihren intensiven Duft verströmten. Auf merkwürdig geformte Steine, die sie gesammelt hatte. Auf den schweren, mit einem starkfarbigen Kelim bezogenen Sessel am Fenster und Merlins bunten Teppich, der in der Nähe des Kamins lag. Wie viele Stunden hatte Claire in diesem Haus verbracht! Hatte sich wohl gefühlt unter Célines Händen. Und hatte darüber nachgegrübelt, wo sie wohl irgendwo in den hübschen alten Schränken oder in dem kleinen Schreibtisch, der an einem der Fenster stand, einen Hinweis auf ihr Geheimnis verborgen hatte. Das für Claire kein Geheimnis mehr war. Sie erinnerte sich noch genau an dieses alarmierende Gefühl, das sie überkommen hatte, als sie dahintergekommen war, dass Céline vor fünfunddreiÃig Jahren den Sommer in den USA verbracht hatte. Den ganzen Sommer. Mehr als acht Wochen hatte Céline Urlaub genommen. Sie hatte das nicht glauben können. Céline, die kaum mal einen Tag der Firma und Leon fernblieb, sollte sich acht Wochen in den USA vergnügt haben? Einen Sprachkurs hatte sie dort machen wollen, hatte ihr Leon erklärt. Weil ihr Englisch so schlecht gewesen sei.
»Ich hatte vor, mein Geschäft auszudehnen. Da war es wichtig, dass Céline englisch sprach.« Leon hatte nicht an dieser Erklärung gezweifelt. Claire dagegen schon. Sie hatte sofort gespürt, dass da etwas nicht stimmen konnte. Und sie hatte herausgefunden, dass Céline nie in den Staaten gewesen sein konnte. Sie war ihr ausgewichen, als sie fragte, wo sie denn in New York gelebt hätte, sie konnte keine Antwort geben, als sie sie fragte, wie denn die Schule hieÃ, in der sie den Sprachkurs gemacht hatte. Das sei alles so lange her, hatte sie geantwortet, sie könne sich nicht erinnern. Claires Neugier war geweckt gewesen. Und am Ende hatte sie mithilfe eines Privatdetektivs herausgefunden, dass Céline diesen Sommer nicht in den Staaten, sondern bei ihrer Schwester in den Pyrenäen verbracht hatte. Einen Ausflug in den kleinen Bergort zu machen, in dem Célines Cousine Marguerite, die inzwischen gestorben war, gelebt hatte, war die Sache von zwei Tagen gewesen. Und jemanden zu finden, der sich daran erinnerte, was für eine hübsche Schwangere Céline Marchand gewesen war, war das Ergebnis gewesen. Wie ein Terrier, der eine Spur aufgenommen hatte, hatte Claire nicht nachgegeben, bis sie schlieÃlich alles erfahren hatte. Auch, was aus Célines Kind geworden war. Und wer sein Vater war.
Aber jetzt würde Paul Racine nichts erfahren. Mit Céline war der einzige Mensch gestorben, der ihm die Wahrheit über seine Herkunft hätte erzählen können. Und falls Céline in ihrem Haus noch Hinweise auf ihr Geheimnis versteckt hatte, würde Claire sie finden. Und vernichten. Als sie vor dem Haus ein Auto herankommen sah, schob sie die Papiere, die sie durchwühlte, in die Schubladen zurück.
»Madame Menec?« Bernard Tessier war erstaunt, Claire in Célines Haus vorzufinden, das er gerade versiegeln wollte. Solange der Tod Célines nicht aufgeklärt war, sollte das
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