Wilde Wellen
anzustarren.
»Hast du den Hund schon mal gesehen?«
Paul strich Merlin über das harte Fell. Schüttelte den Kopf.
Marie setzte sich neben ihn. Und erschrak, als sie spürte, wie kalt Paul war.
»Wie lange sitzt ihr hier schon? Es ist doch viel zu kalt. Komm, gehen wir rein vor den Kamin.«
Sie stand auf. Paul blieb sitzen. Es war deutlich, dass er, obwohl er nur ein dünnes T-Shirt anhatte, die Kälte nicht spürte.
»Mir ist nicht kalt.« Seine Hand hörte nicht auf, den Hund zu streicheln.
»Das ist, weil du unter Schock stehst. Jetzt komm bitte; ich will nicht, dass du dich erkältest.« Sie nahm seine Hand, wollte ihn mit sich ziehen.
»Ich hätte nicht so lange warten dürfen.«
Sie lief ins Haus, holte eine dicke Decke, zog sie über sie beide und kuschelte sich eng an Paul.
»Wenn ich früher den Mut gehabt hätte, sie anzurufen â¦Â« Er lachte bitter auf. »Oder wenn ich sie einfach gar nicht angerufen hätte, dann wäre sie bei diesem Dreckswetter nicht unterwegs gewesen und wäre diesem Typen nicht begegnet. Sie würde noch leben.«
»Vielleicht. Vielleicht hätte sie aber beschlossen, einen Spaziergang zu machen. Kräuter zu sammeln oder so was. Oder vielleicht wäre der Typ mit dem Auto ihr morgen früh begegnet, mitten in der Stadt. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.«
»Wieso weià man erst, was gut gewesen wäre, wenn es zu spät ist?«
Sie wusste keine Antwort darauf. Nahm einfach seine Hand in die ihre und hielt sie fest.
Michels Gesicht schoss ihr durch den Kopf. Die flehende Freude, als er sie entdeckt hatte, vorher in der Gasse.
War das erst ein paar Stunden her? Was, wenn Michel das Opfer gewesen wäre? Wenn er da tot auf der StraÃe gelegen hätte?
»Ob sie gewusst hat, mit wem sie sich treffen wollte? Ich frage mich die ganze Zeit, ob sie gewusst hat, dass ich ihr Sohn bin.«
»Es hat doch keinen Sinn, dass du dir den Kopf zerbrichst.« Irgendwie überraschte es sie, wie erschüttert Paul war. Noch gestern hatte er ihr weiszumachen versucht, dass er gar nicht wusste, ob er diese Frau überhaupt sehen wollte. Und jetzt sah es so aus, als würde ihr Tod ihm das Herz brechen.
»Ich hatte vor, ganz kühl zu ihr zu sein. Sie einfach zu fragen, was sie gegen mich gehabt hat. Gegen ein Baby, dem sie doch das Leben geschenkt hat. Wie konnte sie mich einfach so aus ihrem Leben werfen?«
»Es ist ihr bestimmt nicht leichtgefallen. Wahrscheinlich hat sie dich nie vergessen.«
»Aber sie hätte das nicht tun dürfen. Wie kann ein Mensch nur zu so was fähig sein?«
»WeiÃt du, wozu du fähig bist, wenn du in eine Notlage gerätst?«
Er war so furchtbar durcheinander. Er hatte sie hassen wollen, diese Frau, und jetzt schlug dumpfe Trauer über ihm zusammen. Wut auf sich selbst, weil er nicht früher gehandelt hatte. Wut auf sie, weil sie ihn nicht hatte haben wollen. Er stand auf.
»Du bist schon ganz durchgefroren. Lass uns reingehen.«
Sie schlang die Arme um ihn, als sie hineingingen. Sie wollte ihm das Gefühl geben, dass er nicht allein sei. Der Hund ging wie selbstverständlich neben ihnen her. Und legte sich vor den Kamin, als hätte er das schon immer getan.
Claire kochte Spaghetti Bolognese. Die hatte Caspar als Kind immer verlangt, wenn er krank war. Oder wenn er Kummer im Kindergarten oder in der Schule hatte. Der kräftige Fleischsugo machte ein warmes Gefühl im Bauch. Und Nudeln machten sowieso glücklich. Dass sie Leon nicht aufheitern konnte, war ihr klar. Aber wenn sie ihn so in seinem Kummer dasitzen sah, hatte sie das Bedürfnis, ihm irgendetwas Gutes zu tun. Während sie die Karotten und die Zwiebeln für den Sugo schnibbelte, ging ihr durch den Kopf, was in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde. Es war klar, dass sie sich um Célines Beerdigung kümmern würde. Céline hatte ja keine Verwandten, und Leon und sie hatten ihr am nächsten gestanden. Im Kopf hatte sie eine Liste der Leute erstellt, die man zur Beerdigung einladen musste. Sie hatte über den Blumenschmuck auf dem Sarg nachgegrübelt und über die Musik, die bei der Trauerfeier gespielt werden sollte. Candle In The Wind war ihr als Erstes eingefallen. Aber sie hatte es gleich wieder verworfen. Céline hatte nie eine Ader für Kitsch gehabt. Sie würde versuchen, irgendeine einfache Volkweise zu
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