Wilde Wellen
ich ihn erst mal zu mir genommen. Wir haben gerade einen Spaziergang gemacht, da hat er Marie entdeckt.«
Caspar wollte nichts mehr hören. Er wollte mit Marie allein sein. Nichts anderes.
»Kommst du, Marie? Ich hab super Sachen zu essen.« Er nahm ihre Hand wie selbstverständlich, wollte sie mit aufs Schiff ziehen. Sie lachte.
»Ich komm ja schon.« Sie sah Paul in die Augen. »Grüà deine Freundin von mir. Machâs gut.« Sie ging hinter Caspar her aufs Schiff. Paul sah ihr einen Moment nach. Er konnte nicht erwarten, dass sie mit ihm kam. In das Haus, in dem Sara vermutlich gerade etwas für ihn kochte. Er musste mit Sara reden. Und zwar sofort.
Manchmal hatte sie sich gefragt, ob sie das verdient hatte. Sie hatte alles, was man sich wünschen konnte: einen nicht nur sehr reichen, sondern auch geachteten Mann, der sie liebte. Ein absolut groÃartiges Zuhause. Und Caspar, ihren geliebten Sohn. Sie führten ein zufriedenes Leben im Wohlstand. Würde sie da nicht irgendwann die Quittung bekommen? Claire hatte auf der Terrasse gesessen und in die Nacht gestarrt und sich gefragt, ob es da oben jemanden gab, der für Ausgleich sorgte. So vielen Menschen ging es schlecht, sogar unverdient schlecht â wieso sollte es ihr da so unverdient gut gehen? Und sie hatte den Kopf eingezogen und auf den groÃen Schlag gewartet. Andererseits, ihr Vater war einer der Männer auf der Helena gewesen. Er war ihr genommen worden, bevor sie erwachsen war. Da hatte sie doch schon einen Ausgleich verdient vom Schicksal. Sie war mit den Jahren in die Rolle der Frau an Leon Menecs Seite hineingewachsen, die nicht nur seinem Haushalt mit Bravour vorstand und ihm immer eine attraktive, charmante Begleitung war, sondern die ihn auch liebte und die von ihm geliebt wurde. Ein perfektes Paar, dem das Glück einfach hold zu sein schien. Wann hatte sich das Blatt gewendet? Wann hatte Claire angefangen zu fürchten, dass die guten Zeiten irgendwann vorbei sein konnten? Schon damals, als sie von der Existenz Paul Racines erfahren hatte? Oder erst, als seine Eltern verunglückt waren und er die Unterlagen über seine Herkunft bekommen haben musste? Aber es war ja nicht nur die Gefahr, die von Paul drohte und die jetzt durch Célines Tod auf ein Minimum geschrumpft war. Plötzlich war die Bedrohung von einer Seite gekommen, mit der sie überhaupt nicht gerechnet hatte. Marie hatte für Michel nicht existiert und für Claire schon gar nicht. Bis zum Tag dieser Katastrophe in Paris. Diesem Tag, an dem alles schiefgegangen war. Wenn dieser idiotische Junkie nicht so versagt hätte, wäre nichts von dem passiert, was nun ihre Existenz bedrohte. Paul Racine wäre nicht in die Bretagne gekommen, Marie wäre nicht verletzt gewesen, es hätte kein Grund für Michel bestanden, sie in sein Leben zurückzuholen.
Und sie selbst hätte sich keine Sorgen mehr machen müssen.
Claire beendete ihre Ãbungen nach ein paar Minuten. Es brachte einfach nichts, wenn sie ihre Gedanken nicht abschalten konnte. Ihr Leben schien ihr im Moment aus den Händen zu gleiten. Egal wo sie sich hinwandte, gab es Bedrohungen. Aber sie würde es nicht zulassen, dass ihr Leben zerstört wurde.
Der Anruf der Sängerin riss sie aus ihren trüben Gedanken. Sie wollte wissen, ob Claire bestimmte Wünsche hatte, was sie auf Célines Beerdigung singen sollte. Oder ob sie ihr eine Liste mit Titeln mailen sollte.
»Titel nützen mir ehrlich gesagt nicht so viel. Ich bin kein Kenner von Folkloremusik.«
»Ich kann Ihnen auch ein paar CD s schicken, wenn Ihnen das lieber ist. Hören Sie sich die einfach an, und dann telefonieren wir.«
Sie hatte es angefangen, und sie würde es zu Ende bringen. Jetzt musste erst einmal Céline beerdigt werden. Und dann würde sie weitersehen.
Als Michel das Lokal verlieÃ, um nach Hause zu gehen, sah er die Raben um die Mauern der grauen Häuser fliegen. Ihr Krächzen erfüllte die Nacht. Wo Marie jetzt wohl war? Sie hatte gesagt, dass sie nachdenken müsse. Er hoffte so sehr, dass es richtig war, dass er sich auf Leons Lügengespinste eingelassen hatte. Aber im Grunde gab es niemanden, der Marie hätte erzählen können, dass die Geschichte um die Liaison mit dieser Carla Besson frei erfunden war. Trotzdem fühlte er sich unbehaglich. Das Herz war ihm schwer, weil er fürchtete, dass der einen Lüge eine weitere
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