Wilde Wellen
folgen würde. Und dass er sich immer mehr in diesen erfundenen Geschichten verirren würde. Marie beobachtete ihren Vater, wie er sein Lokal verlieÃ. Sie hatte Caspar nach der opulenten Schlemmerei gesagt, dass sie noch ein paar Schritte gehen wollte. Allein. Und war unversehens am Café du Port gelandet, das Michel in diesem Augenblick verlieÃ. Er war bestimmt einmal ein sehr attraktiver Mann gewesen, groà und schlank, wie er war. Mit seinen tiefblauen Augen und den blonden Haaren hatte er die Mädchen sicher reihenweise begeistert. Es war kein Wunder, dass sich ihre Mutter in ihn verliebt hatte. Und sicher auch kein Wunder, dass diese Carla ihn sich hatte schnappen wollen. Er hätte ihr doch von der Helena erzählen können. Ein Mann, dem so etwas passiert war, der musste doch neben der Spur sein. Er, als Kapitän, war der einzige Ãberlebende gewesen; alle seine Leute waren mit seinem Schiff untergegangen. Was für eine furchtbare Tragödie. Nicht nur für die Toten und ihre Familien, sondern auch für den einzigen Ãberlebenden. Ein Mann, der so etwas erlebt hatte, musste doch angeknackst sein. Marie spürte, wie ihr Herz schmolz und das Mitleid für ihren Vater in ihr anschwoll. Einen Moment lang hatte sie wieder wütend werden wollen. Noch eine Lüge, hatte sie gedacht. Noch etwas, was er mir nicht erzählt hat. Doch wie sie ihn da so durch die dunklen Gassen gehen sah, mit hoch gezogenen Schultern, die Hände tief in den Taschen seiner blauen Caban-Jacke vergraben, den Kopf gesenkt, glaubte sie zu wissen, wieso er ihr nicht von der Helena erzählt hatte. Er hatte einfach nicht den Eindruck erwecken wollen, sich mit dieser schrecklichen Geschichte für seinen Betrug entschuldigen zu wollen.
»Michel.«
Michel drehte sich um. Da war sie ja. Er versuchte den Ausdruck in ihrem Gesicht zu enträtseln. Konnte sie ihm verzeihen? Oder war sie gekommen, um sich endgültig zu verabschieden?
»Ich finde es traurig, dass du es zugelassen hat, dass Maman mich dir weggenommen hat. Du hättest um mich kämpfen müssen. Ich war dein Kind. Man darf ein Kind nicht gehen lassen.«
»Nein, das darf man nicht. Ich habe eine Menge Fehler in meinem Leben gemacht. Aber glaub mir, Marie, dich gehen zu lassen, das war der gröÃte alle Fehler.«
Sie sahen sich an. Sie konnte nicht anders, sie glaubte ihm das. So viel Schmerz konnte man nicht vortäuschen.
»Es gibt so viel, was ich dir erzählen will. Schöne Sachen, wie die von deinem zweiten Geburtstag, als du den Nachbarshund mit der Torte gefüttert hast, bevor die Gäste kamen.« Die Erinnerung an die kleine Szene zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. »Aber auch traurige Sachen.«
»Ich will alles wissen. Vielleicht kann ich dich verstehen. Und Maman auch.«
»Und vielleicht kannst du mir dann auch vergeben? Denkst du, das ist möglich?«
Ihr Blick hielt seinem bittenden Blick stand. Sie musste nichts sagen. Michel nahm ihre Hand. Und sie gingen zusammen auf sein Haus zu.
Merlin hörte nicht auf Pauls Rufen. Nachdem er eine Zeitlang lammfromm neben ihm hergelaufen war, gab er plötzlich Gas und raste davon. Paul rief noch hinter ihm her. Doch der weiÃe Hund schien ihn nicht zu hören und verschwand zwischen den Dünen. Eigentlich hatte Paul keine Lust auf einen Umweg. Der Spaziergang von seinem Haus nach Concarneau war schon eine ganz schöne Strecke gewesen; jetzt wollte er auf dem kürzesten Weg wieder zurück. Er hörte das leise Bellen des Hundes und folgte ihm. Das Bellen wurde lauter. Und von einem aggressiven Knurren unterbrochen.
»Was ist denn, Merlin?« Das Knurren wurde drohender, während Paul durch den Sand in Richtung von Célines Haus stolperte, wo er den Hund vermutete. Merlin tauchte aus dem Dunkel auf, sah Paul auffordernd an. Paul erinnerte sich, dass der Hund das Gleiche getan hatte, als er ihn vor ein paar Tagen zu Céline führen wollte.
»Ich komm ja schon.« Wenn das Gehen im Sand nur nicht so mühsam gewesen wäre. Obwohl er gut in Form war, strengte es ihn ziemlich an, dass er bei jedem Schritt bis zum Knöchel im Sand versank. Wieder hörte er Merlins Knurren. Was er wohl gefunden hatte? Einen Bau, in den sich ein Fuchs verkrochen hatte, eine Katze auf einem Baum? Als er zwischen dem fast mannshohen Strandhafer herauskam und freien Blick auf Célines Haus hatte, sah er, dass Merlin vor
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