Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
hören konnte. Die Wache bückte sich und nahm einen der umherliegenden Granatäpfel auf, ging dann zu dem Kind herüber und legte ihm die Frucht mit einem scharfen Befehl, bloß stillzustehen, auf den Kopf.
Nasrullah drehte sich wieder zu seinem Gast und fuhr fort: »Schießt den Granatapfel von seinem Kopf, und ich mache ihn Euch zum Geschenk. Verfehlt Ihr, schieße ich selbst, wie lange auch immer es dauern mag.«
Nur jemand, der Ross so gut kannte wie Juliet, konnte das fast unsichtbare Anspannen seiner Gesichtsmuskeln erkennen. »Also gut«, stimmte er ohne äußerliche Gefühlsregung den Bedingungen dieses pervertierten Wilhelm-Tell-Spieles zu.
Als er die Pistole nachlud, empfand Juliet seinen inneren Aufruhr so heftig, als wäre er ihr eigener. Der Junge stand an der äußersten Grenze der Reichweite der Waffe, was bedeutete, daß ihre Treffsicherheit mehr als eingeschränkt war. Ross mußte sich der Wahrscheinlichkeit stellen, daß er entweder den Jungen versehentlich erschoß oder danebentraf und ihn somit den tödlichen Spielen des Königs auslieferte. Die einzige Hoffnung des Kindes war, daß Ross einen makellosen Treffer landen würde und wenn er es nicht schaffte, dann - das wußte sie - würde er sich niemals verzeihen.
Doch nichts verriet seine Unruhe, als er nun die Pistole hob und sie sorgfältig auf das kleine rötliche Ziel ausrichtete. Für Juliet war dies einer der Augenblicke, die sich für immer in den Geist einbrannten. Ross sah so gut, so ruhig und so ausgesprochen englisch aus, er wirkte so entspannt, als würde er Schießübungen in irgendeinem Londoner Stand machen. Ein Lichtstrahl bahnte sich seinen Weg durch die Palmwedel und ließ sein Haar in funkelndem Gold aufleuchten. Am entfernten Ende des Hofes stand ein Kind und riß die Augen vor Furcht derart weit auf, daß überall um die dunkle Iris das Weiße zu sehen war. Hektisches Atmen erfüllte die Luft. Todesangst!
Juliet sprach ein stilles, inbrünstiges Gebet sowohl für den Jungen als auch für Ross. Dann brüllte die Pistole auf.
Dieses Mal brauchte der Qualm noch länger, sich aufzulösen. Ungeduldig trat der Emir vor, um das Ergebnis zu überprüfen, während Ross langsamer folgte. Bevor sie die Hälfte des Weges hinter sich gebracht hatten, war die Sicht wieder klar genug, um den Jungen unverletzt zu zeigen. Rote Fetzen des Granatapfels klebten an der weißen Wand hinter ihm.
Nasrullah brach in Gelächter aus und klopfte Ross auf den Rücken. »Wunderbar! Wunderbar! Ihr seid wirklich ein phantastischer Schütze!« Er trat nah an den gefesselten Jungen heran und strich mit desinteressierter Geste über seine weiche Wange. »Ihr habt einen Sklaven gewonnen, Lord Kilburn«, sagte der Emir. »Es ist ein hübsches Kind. Genießt ihn.«
Bebend vor unterdrückter Wut kam Juliet heran und band den Jungen von den Palmen los. Das Kind schaute unsicher zu ihr auf, offenbar verängstigt durch den praktisch lückenlosen Schleier. »Fürchte dich nicht. Alles wird gut«, flüsterte sie heiser.
Dann nahm sie seine Hand und führte den Jungen zurück zu der Gruppe der Zuschauer. Als sie anhielt und sich umdrehte, um wieder das Geschehen zu beobachten, blieben seine Finger fest um ihre geschlungen.
Mit kaum merkbarer Ironie wandte sich Ross an den Emir: »Eure Majestät ist gnädig und großherzig. Ich danke Euch für das Geschenk.«
Der Emir wechselte das Thema abrupt. »Ihr behauptet, Major Cameron sei Euer Bruder, doch Ihr ähnelt ihm höchstens in der Größe. Hat Euer Vater Euch mit anderen Frauen gezeugt?«
»Nein. Major Cameron ist kein Bruder durch Blut, sondern durch Heirat«, erklärte Ross. »Seine Schwester ist meine Frau.«
»A-h-h-a.« Nasrullah strich sich über seinen Bart. »Habt Ihr nur eine Frau? Man sagt zwar, das sei so Brauch bei den Ferengis, aber sicher lassen sich Männer von Eurem Rang doch nicht durch solch lächerliche Regeln beeinflussen.«
»Manche Männer haben Konkubinen«, gab Ross zu, »aber unser Gesetz bindet alle Männer, von welchem Rang auch immer, an eine einzige Frau.«
Der Emir schnaubte. »Wie langweilig! Ein Mann braucht Abwechslung.«
»Abwechslung ist nicht ohne Reiz, aber sie geht auf Kosten von tieferer Liebe«, antwortete Ross. »Ein Mann, der ein Dutzend Pferde besitzt, wird eines nicht so schätzen wie derjenige, der nur ein einziges besitzt. Und so kann auch ein Mann mit nur einer Frau sie besser kennenlernen und sie höher schätzen als einer, der einen ganzen Harem voller
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