Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
ihr eine Dienerin, die Strähnen zu bürsten, während eine andere es trocken fächelte.
Der Himmel wußte, daß sie Ross nicht reizen wollte. Nichtsdestoweniger war sie Frau genug, um gut aussehen zu wollen. Ihr Haar faßte sie nicht zu dem gewohnten Knoten im Nacken zusammen, sondern ließ es in weichen Wellen auf die Schultern fallen. Doch was sollte sie anziehen? Als Gul-i Sahari trug sie fast immer nur Männerkleidung - sie besaß keines dieser orientalischen Frauengewänder. Allerdings . . .
Mit beträchtlichem Zögern ging Juliet in die kleine Kammer, die an ihr Schlafzimmer grenzte. Dort stand eine abgeschabte Truhe, die die Reste ihres europäischen Lebens mitsamt zwei Kleidern enthielt. Sie hatte die Truhe seit Jahren nicht mehr geöffnet, hatte es aber auch nicht übers Herz gebracht, den Inhalt fortzuwerfen. Die Kleider hatten auch damals, als sie neu gewesen waren, nicht der Mode entsprochen. Kurz nach ihrer Hochzeit hatte Juliet leidenschaftlich gegen die barbarischen und schmerzhaften Korsetts gewettert und sich gefragt, warum die Europäer die echten Figuren ihrer Frauen nicht mochten. Ross hatte ihr versichert, daß er ihre Figur liebte und ihr mit atemberaubender Schlichtheit vorgeschlagen, sie solle sich Kleider ohne Korsett machen lassen, da ihre Taille auch so schmal genug war.
Juliet hatte nicht gezögert, sich an die Verwirklichung von Ross' Vorschlag zu machen. Obwohl die Schneiderin entsetzt gewesen war, hatte sie Lady Ross Carlisle natürlich als Kundin nicht verlieren wollen, und so waren zwei Kleider, eins für den Tag und eins für den Abend, entworfen und genäht worden. Nun waren diese beiden die einzigen europäischen Kleider, die sie noch besaß.
Zögernd kniete sich Juliet nieder, entriegelte die Truhe und hob dann den Deckel. Lavendelduft strömte ihr entgegen, und sie hielt sekundenlang die Luft an. Sie hatte vergessen, daß sie die Kleider zum Schutz in Lavendel eingepackt hatte, und nun traf der süßliche Geruch ihr zerbrechliches Nervenkostüm wie ein gewaltiger Schlag.
Mit bebenden Händen schlug Juliet das Papier von dem blauseidenen Abendkleid zurück. Das zarte Material schimmerte dezent und glitt sinnlich durch ihre Hände. Der Duft, der aus dem Kleid aufstieg, löste eine Flut von Erinnerungen aus, und Juliet vergrub ihr Gesicht in den Stoff. Lieber Gott, Norfolk-Lavendel . .
Die Saison war gerade beendet gewesen, und Juliet, ihre Tante und ihre Mutter, die soeben nach England zurückgekehrt war, hatten sich zu einer Party im Haus des Dukes und der Duchess von Windermere begeben. Obwohl von Hochzeit noch keine Rede gewesen war, hatte es sich um die Art von Besuch gehandelt, bei dem sich die möglichen Verwandten kennenlernen und abschätzen sollten. Tante Louise war selig gewesen, daß ihr wenig versprechender Schützling sich den Sohn eines Dukes geangelt hatte, während Lady Cameron von Ross begeistert war und ihn für einen wunderbaren Schwiegersohn hielt. Die Windermeres hatten sich weniger begeistert gezeigt, und obwohl sie deutlich gemacht hatten, daß sie Juliet mochten, waren sie von Anfang an gegen eine Verbindung der beiden gewesen.
Für Ross und Juliet hatte der Besuch in Norfolk bedeutet, daß sie mehr Zeit miteinander verbringen konnten, denn das Land war traditionsgemäß weniger steif und förmlich als London. Trotz allem hatten sie in den ersten drei oder vier Tagen keine Chance bekommen, allein zu sein. Dann endlich jedoch hatte man ihnen einen Ausritt gestattet, nur sie beide ganz allein.
Es war ein makelloser englischer Sommertag gewesen, die Sonne schien warm, ein sanfter Wind wehte, und dicke weiße Wolken zogen am intensiv blauen Himmel vorbei. Nach einer Stunde waren sie in einem kleinen Buchenwäldchen abgestiegen, das von ausgedehnten Lavendelfeldern umgeben war. Der Frühling war in diesem Jahr zeitig gekommen und der Pflanzenwuchs schon weit fortgeschritten, so daß die Lavendelfelder blau und violett leuchteten, und der würzige Duft schwer in der Luft lag.
Ross hatte eine Decke und einen Korb mit frischem Brot, Käse, Wein und Obsttörtchen mitgebracht. Obwohl die Atmosphäre zwischen ihnen vor Spannung vibrierte, hatten sie absolut schicklich gegessen und geplaudert, ohne sich zu berühren, jedoch mit vielsagenden sehnsuchtsvollen Blicken. Als sie schließlich satt gewesen waren, wollte Juliet die Krümel fortwischen, doch Ross hatte ihre Hand festgehalten, sie an die Lippen geführt und ihre Handfläche sanft geküßt.
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