Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
seinen zerschlissenen Rock über. »Ach da fällt mir ein . . . bin ich ein Gefangener?«
Juliet starrte ihn verdattert an. »Natürlich nicht.« Dann biß sie sich auf die Lippe, als sie erkannte, daß es überhaupt nicht natürlich war, zumindest nicht nach der Art, wie sie ihn noch kurz zuvor behandelt hatte. »Ich bringe dich zu deinem Zimmer. Deine Sachen müßten schon dort sein.«
Schweigend folgte Ross ihr durch das ausladende Gebäude zu der Flucht der Zimmer, die ihm zugewiesen worden waren.
Tatsächlich lagen Sattel und sein Gepäck bereits dort.
Nachdem sie ihm erklärt hatte, wo sich das Badehaus oder der Hammam der Männer befand, sagte sie: »Wir sehen uns eine Stunde nach Sonnenuntergang. Ich schicke dir jemanden.«
Plötzlich schoß ihr durch den Kopf, daß sie oft zusammen in der Tür eines Schlafzimmers gestanden hatten, doch jedesmal waren sie gemeinsam hineingegangen. Und vielleicht ließ der rätselhafte Blick, mit dem Ross sie bedachte, darauf schließen, daß er dasselbe dachte.
Abrupt machte Juliet kehrt und entfernte sich, ohne einen Blick zurückzuwerfen, wobei sie sich zu einer gemäßigten Geschwindigkeit zwingen mußte, statt um ihr Leben zu rennen.
Sie bog um eine Ecke in einen anderen Korridor, ging ihn bis zum Ende und bog dann wieder ein. Im Palast lebten weitaus weniger Menschen als in seiner Blütezeit, und dieser Teil des Gebäudes war meistens leer. Und dann war sie zum ersten Mal, seit sie Ross gefunden hatte, endlich allein.
Die kühle Entschlossenheit, die sie durch die letzten Stunden gebracht hatte, bröckelte, und sie lehnte sich mit zittrigen Knien gegen eine Wand. Lieber Gott, Ross hatte so recht. Es wäre unendlich viel leichter gewesen, sich niemals zu erkennen zu geben . . . und Juliet konnte nur sich selbst daran die Schuld geben.
Bebend drückte sie sich an die Wand und rang um Atem. Sie hätte ihn niemals reizen dürfen! Ja, sie war wegen seiner Verwundung besorgt gewesen, auch frustriert durch sein kühles Verhalten. Aber der wirkliche Grund für ihr unmögliches Benehmen war Zorn gewesen. Wieder war ihr feuriges Rotschopf-Temperament mit ihr durchgegangen, und wieder war der Schuß nach hinten losgegangen, wie es Wut so oft tat.
Sie war nicht auf Ross' Person wütend gewesen, sondern vielmehr auf seine Gegenwart. Jahrelang hatte Juliet sich darum bemüht, ein neues Leben aufzubauen, eine Art Frieden zu finden. Und in nur einem Augenblick hatte ihr Ehemann beides zunichte gemacht. Er hatte eine ganze Welt zum Reisen - warum, zum Teufel, mußte er in ihrem Vorgarten aufkreuzen?
Ross wäre umgekommen, wenn sie und ihre Leute nicht im richtigen Moment dazugestoßen wären, insofern konnte sie diese seltsame Schicksalswendung nicht wirklich bereuen. Dennoch war sie wütend gewesen, und ihr Zorn auf die Ungerechtigkeit des Lebens hatte sie dazu verleitet, ihn wie eine Ware auf dem Sklavenmarkt zu behandeln. Ironischerweise hatte ihre geschockte Reaktion auf die Narben den Moment verlängert und die Szene für ihn bedrohlicher gemacht, als sie es beabsichtigt hatte. Als Resultat daraus hatte sie einen Mann verärgert, der für sein lockeres Gehabe bekannt war, und sich selbst zu etwas verdammt, das in eine qualvolle Konfrontation ausarten würde. Und das Schlimmste von allem: Als sie Ross' wundervoll vertrauten Körper berührt hatte, waren Gefühle in ihr geweckt worden, die sie vor zwölf Jahren zu begraben gehofft hatte.
Juliet hatte es verabscheut, in die Londoner Gesellschaft eingeführt zu werden. Sie war zu groß, ihr Haar war ein flammendes, unrühmliches Leuchtfeuer, und ihre Herkunft war viel zu unkonventionell, als daß sie ein erfolgreiches Debüt gehabt haben könnte. Die Tatsache, daß es sie auch nicht interessierte, gesellschaftlichen Erfolg zu haben, hatte die Demütigung allerdings nicht weniger schmerzvoll gemacht.
Ohne Sara St. James wäre Juliet in der ersten Saison bereits verrückt geworden. Dabei war Lady Sara das genaue Gegenteil von ihr. Sie besaß alles, was Juliet fehlte: Lady Sara war zierlich, auf eine anmutige, weibliche Art lieblich, und sie besaß einen so phantastischen Charme, daß jeder, der sie kennenlernte, sich sogleich wichtig und geehrt fühlte.
Ihre Schulfreundschaft hätte so leicht unter dem Druck der Gesellschaft zerbrechen können. Statt dessen hatte Sara alles getan, um Juliets Weg zu ebnen. Sie hatte darauf bestanden, daß die Einladungen, die sie bekam, auf ihre Freundin ausgedehnt wurden, und sie hatte
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