Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
englische Verhältnisse sehr brav gewesen wäre, ziemlich gewagt vor, was keinesfalls der Effekt war, den sie sich wünschte.
Sie überlegte einen Moment, dann fiel ihr ein reichgemusterter Kaschmirschal ein, den ein Reisender ihr einmal für ihre Gastfreundschaft geschenkt hatte. Nachdem sie ihn um ihre Schultern drapiert hatte, betrachtete sie sich erneut. Die weichen Blau- und Grautöne des Schals paßten sehr gut zu dem Kleid und machten es zudem ein wenig schicklicher. Unglücklicherweise wirkte sie nun respektabel bis zu einem Grad von Altjüngferlichkeit, was sie auch nicht gerade erreichen wollte. Sie war schließlich keine englische Gouvernante, sondern eine exzentrische Kriegsherrin einer persischen Festung. Sie hatte keine Lust, ihrem Mann als schüchterne, graue Maus gegenüberzutreten, als wollte sie um seine Billigung heischen.
Was ihr Aufzug brauchte, war ein wunderbar barbarischer turkmenischer Schmuck, und Juliet besaß zufällig genau das Passende. Bisher hatte sie nie die Gelegenheit gehabt, die Schmuckstücke zu tragen. Nach sorgsamer Überlegung wählte sie Ohrringe aus funkelnden gedrehten Bändern, die fast bis auf ihre Schultern reichten, und ein passendes Halsband, das die restliche freie Haut über ihrem Ausschnitt bedeckte. Ohrringe und Kette waren aus goldgetriebenem Silber gemacht, aufgelockert durch unregelmäßig geformte Perlen aus Karneol und Türkis.
Tapfer stellte Juliet sich wieder dem Lavendelduft, um ein Töpfchen rosafarbener Paste zu suchen, die sie auf ihre Lippen strich. Rouge hatte sie nicht nötig - ihre Wangen hatten bereits genug Farbe.
Der abschließende Touch war ganz und gar landesbedingt. In allen Wüstengegenden von Asien und Afrika schwärzten Männer und Frauen sich die Augenlider mit einer Paste aus Öl und Antimon. Mal Kohl, mal Surma genannt, gab es das Rezept dafür schon mindestens seit der antiken ägyptischen Blütezeit und war sowohl zur Pflege der Augen als auch zum Schutz vor der gleißenden Sonne benutzt worden. Zudem hatte es einen höchst dramatischen Effekt und würde ihrer Aufmachung den richtigen Akzent geben. So nahm Juliet also einen kleinen Pinsel, tauchte ihn in das Surma und bestrich ihre gesenkten Lider mit der kühlen Paste.
Endlich konnte sie ihr Spiegelbild zufrieden mustern. Sie sah wie eine geheimnisvolle Mischung aus Ost und West aus, keinesfalls provokativ, aber auch überhaupt nicht bieder.
Dann war sie bereit, ihrem Gemahl entgegenzutreten.
Kapitel 4
Eine Stunde nach Sonnenuntergang geleitete ein höflicher junger Mann, der sich auf leisen Füßen fortbewegte, Ross zu der Kammer, wo er mit Juliet essen sollte. Das Zimmer, das durch mehrere Lampen beleuchtet wurde, wirkte wie ein Arbeitszimmer, das zeitweilig zu einem Speisezimmer im westlichen Stil umfunktioniert worden war. Im Orient war es Brauch, auf dem Boden oder auf dicken Kissen um einen niedrigen Tisch herum zu sitzen, doch in diesem Zimmer stand ein Holztisch, über den man ein Leinentuch gedeckt und darauf silberne Teller und Besteck im europäischem Stil plaziert hatte.
Der Diener verbeugte sich und ließ Ross allein. Es machte ihm nichts aus, denn er fand es interessant, in Ruhe seine Umgebung zu mustern, die ihn entfernt an sein eigenes, recht unkonventionelles Arbeitszimmer zu Hause in England erinnerte. Neben ungewöhnlichen Stücken von Töpfereien und Figuren entdeckte er Bücher und Schriftrollen in gut einem halben Dutzend verschiedener Sprachen. Einige der asiatischen Texten kamen ihm so fremdartig vor, daß sie seine Wißbegierde weckten. Einen Augenblick fragte er sich, ob es eine geringe Möglichkeit gab, daß Juliet ihm einige davon lieh, oder ob er lange genug bleiben könnte, um seine eigenen Übersetzungen zu machen. Doch dann erinnerte er sich wieder an seine Mission, und er zügelte seine Begeisterung. Er mußte erst lebendig aus Buchara zurückkehren, bevor er sich irgendwelche Bücher leihen konnte. Noch interessanter waren Juliets eigene Karten und Notizen, in denen sie sorgfältig ihre Beobachtungen über Land und Leute eingetragen hatte. Es gab mehr als ein Dutzend Notizbücher, und er überflog ein paar davon. Scharfsichtig und ironisch, wie die Tagebücher geschrieben waren, wären sie in London ein großer Erfolg gewesen, wenn man sie unter einem Titel wie Persische Reisen einer englischen Lady veröffentlichen würde. Sie boten ebenfalls einen interessanten Einblick in die Seele der Frau, zu der seine ehemalige Braut geworden
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