Wilder als der Hass, süsser als die Liebe
Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie verliebt - wundervoll, ausschließlich und ekstatisch verliebt -, und erstaunlicherweise schien Lord Ross Carlisle ebenfalls von ihr angetan. Ihre Abneigung gegen England hatte sich an diesem Abend aufgelöst, und sie hatte erkannt, daß ihre Abscheu ausschließlich ein Resultat der Einsamkeit gewesen war, des Gefühls, nicht in diese Gesellschaft zu passen. Nun, da sie so glücklich war, wußte sie nicht, wo sie lieber gewesen wäre. Sie hatte Ross' zuversichtliche Ausstrahlung geliebt, seine Freundlichkeit, die Art, wie er über ihre Scherze lachte und ihr damit das Gefühl gab, sie sei wunderschön und klug.
Den Rest der Saison hatten sie und Ross die Gerüchte angeheizt, weil sie bei gesellschaftlichen Ereignissen viel zu eng zusammenhingen und oft ausritten oder Ausflüge unternahmen. Es war eine Beziehung aus Neckerei und Lachen gewesen, die so natürlich wie die zu ihren Brüdern war, jedoch mit dem Kribbeln der körperlichen Anziehungskraft. Immer wieder hatten sie sich im stillen geküßt, und das süße Feuer dieses Gefühls hatte in Juliet ein bebendes, verwirrendes Verlangen geweckt. Und dann war die Party in Norfolk gekommen . . .
Allein bei dem Gedanken bohrten sich Juliets Finger in den Mörtel, bis weißer Putz unter ihren Nägeln abbröckelte.
Erst eine sanfte Berührung an ihrem Arm brachte sie in die Realität zurück. »Gul-i Sahari, was bekümmert dich?« Es war Saleh. Mit einiger Anstrengung riß sich Juliet zusammen, dann wandte sie sich zu dem Mann um, der ihr Leben in Serevan möglich gemacht hatte. »Nichts bekümmert mich, Onkel. Ich habe nur ein wenig nachgedacht.«
Der Usbeke hätte nicht im Traum daran gedacht, sie eine Lügnerin zu nennen, doch die erhobene graue Augenbraue drückte deutlich seinen Unglauben aus. »Hat der Ferengi dich beleidigt?«
»Nein!« entgegnete sie schnell. Nach einem Augenblick des Nachdenkens seufzte sie und erkannte, daß sie Saleh die Wahrheit gestehen mußte. »Der Ferengi, Ross Carlisle, ist ein englischer Lord. Und er ist zufällig auch mein Gemahl.«
»Du hast einen Gemahl!« Saleh zog scharf die Luft durch die Zähne, als er diese verblüffende Neuigkeit verbaute. »Ist er gekommen, um dich von hier fortzuholen?
Obwohl es geschrieben steht, daß eine Frau ihrem Gemahl gehorchen soll, werden deine treuen Diener es nicht zulassen, daß er dich gegen deinen Willen entführt.«
»Der Lord will mich nicht wegholen. Es waren nur die Winde des Zufalls, die ihn hierhergeführt haben. Er war genauso überrascht wie ich, mich hier zu treffen. Und genauso entsetzt.« Juliet schenkte Saleh ein leises Lächeln. »Er würde es auch nicht wünschen, mich nach Hause zu holen. Wir haben uns seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen. Da ist nichts zwischen uns außer einem Pakt, den wir geschlossen haben, als wir jung waren. Zu jung.«
Saleh streichelte nachdenklich seinen dichten grauen Bart, während seine Augen sie durchdringend ansahen. »Die Winde des Zufalls sind auch oft die Winde des Schicksals, Kind.«
»In diesem Fall nicht«, sagte sie fest. »Komm, laß uns zu den Ställen gehen. Ich möchte ein Pferd für meinen Mann aussuchen, damit er schon bald weiterreiten kann.«
Denn um ihres Seelenfriedens willen konnte Ross nicht schnell genug verschwinden.
Mit den alltäglichen Aufgaben in Serevan umzugehen, brachte Juliet wieder ins Gleichgewicht. Sie, Saleh und der Vorsteher des Dorfes besprachen zunächst den Wiederaufbau eines verrotteten Systems von Bewässerungskanälen, dann wählte sie ein Pferd aus, das Ross' Gewicht gerecht wurde, und schließlich ging sie in die Küche, um ein besonderes Essen für zwei zu arrangieren.
Sie sprach auch mit ihren Männern, die von der Verfolgung zurückkehrten. Die Gruppe, die den Turkmenen nachgejagt war, hatte keinen Erfolg gehabt: Die Räuber hatten die offene Ebene erreicht, in der ihre Pferde in ihrem Element waren, und so hatte die Truppe aufgegeben und kehrtgemacht. Die Suche nach Ross' Dienern jedoch war erfolgreich gewesen. Nachdem man sie gefangen hatte, waren die Perser froh über die Nachricht gewesen, daß ihr Arbeitgeber noch lebte, und glücklich, die Sicherheit einer Festung in Anspruch nehmen zu können, statt zu riskieren, noch mehr Turkmenen über den Weg zu laufen.
Der Nachmittag verstrich in Windeseile, und nur zu bald mußte sich Juliet zum Essen fertig machen. Zuerst ging sie in den Frauen-Hammam, um zu baden und sich das Haar zu waschen. Dann half
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