Wilder als Hass, süsser als Liebe
können wir doch nicht einfach davonspazieren.«
ROSS seufzte. »Und damit sind wir einmal mehr, wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal bei der Frage, was es für einen Sinn hat, wenn ein Mensch selbst für einen guten Zweck Selbstmord begeht. Du weißt, wie ich darüber denke.«
Juliets Temperament flammte auf: »Das heißt doch übersetzt, daß du zu feige bist, zu versuchen ihn zu retten.«
»Natürlich bin ich zu feige«, stimmte er prompt zu. »Seit ich Konstantinopel verlassen habe, befinde ich mich in einem permanenten Zustand der Panik, und die letzten Wochen haben mich wie eine Schüssel Aspik zittern lassen. Aber es geht hier nicht um Angst; die Frage ist, was möglich ist und was nicht.«
ROSS’ Worte entwaffneten Juliet so gründlich, daß sie gelacht hätte, wenn sie nicht so aufgewühlt gewesen wäre. Sie hatte ihren Mann oft genug in Aktion gesehen, um zu wissen, daß der Vorwurf der Feigheit schlichtweg absurd war.
»Es tut mir leid«, murmelte sie zerknirscht. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Aber ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, daß lan nur knapp eine Meile von uns entfernt schrecklich leidet.
Wir müssen doch etwas tun.« Sie fuhr sich zerstreut mit den Fingern durchs Haar. »Glaubst du, Abdul Samut Khan weiß, wer im Schwarzen Brunnen sitzt? Wenn ja, kannst du ihm vielleicht die Wahrheit mit Geschenken abpressen.«
»Wenn er’s weiß, dann wird er es uns wahrscheinlich nicht sagen, oder er hätte bereits angedeutet, daß er wertvolle Informationen besitzt.« ROSS runzelte die Stirn. »Irgendwie ist das Wissen, um welchen Gefangenen es sich handelt, gar nicht so ausschlaggebend. Vermutlich wird es unmöglich sein, das herauszufinden. Aber ich kann in keinem Fall den Gedanken ertragen, einen Europäer in den lau-nischen Händen des Emirs zu lassen.« Er blieb endlich stehen und wandte sich zu Juliet um. »Ich möchte dir einen Handel anbieten.«
Ihre Augen weiteten sich wachsam. »Was für einen Handel?«
»Wir müssen bestimmen, ob wir eine Chance haben, den Gefangenen zu befreien. Wenn es möglich ist - nicht garantiert, aber möglich -, verspreche ich, daß ich mich mit ganzem Herzen an einem Rettungsplan beteilige.« Seine Augen wurden hart, während er sie intensiv fixierte. »Als Gegenleistung will ich dein Versprechen, daß wie keinen Selbstmordversuch begehen, falls sich herausstellt, daß das Gefängnis so gut bewacht ist, daß wir keine realistische Hoffnung auf Erfolg haben. Statt dessen werden wir Buchara wie geplant verlassen. Sobald wir Teheran erreichen, werden wir die britische und russische Regierung informieren.
Diplomatischer Druck könnte dann erfolgversprechender sein als Heldentaten unsererseits.«
Vorausgesetzt, der Mann im Kerker war nicht in der Zwischenzeit gestorben. Aber ROSS hatte recht - es gab einen Unterschied, ein Risiko mit einer gewissen Erfolgschance einzugehen oder in den sicheren Tod zu marschieren. Dennoch…
»Wer entscheidet, was möglich ist?« »Ich habe befürchtet, daß du das fragst«, gestand er ruhig. »Da wir uns nur auf vage Informationen verlassen müssen, werden wir einfach viel fragen müssen… und ich hoffe, daß du vernünftig sein wirst.«
Juliet zog die Augenbrauen hoch. »Du solltest mich besser kennen, als zu vermuten, ich würde vernünftig sein!«
»Ich sagte, ich hoffe, nicht ich erwarte.« Er schenkte ihr ein leichtes Lächeln. »Denk nur an eines: Je länger wir bleiben, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß wir Ärger bekommen.
Heute abend deutete Abdul Samut Khan an, daß Shahid Mahmud sich entschließen könnte, mit uns reinen Tisch zu machen, falls die Armee sehr lange unterwegs ist, und er ist ein Typ, der dich genauso wie mich beiseite schaffen will.«
Juliet zuckte innerlich zusammen. Sie würde sich mit Shahid schon messen, wenn sie bewaffnet war, aber sie hatte keine Lust, von ihm noch einmal in einem Flur bedrängt zu werden.
»Wir haben also keine Zeit zu verlieren. Wir müssen jemanden finden, der sich im Gefängnis auskennt. Salehs Bruder oder Hussayn Käsern könnte jemanden kennen, der uns weiterzuhelfen vermag. Und es könnte recht sinnvoll sein, mit Ephraim ben Abraham intensiver zu sprechen.«
»Wenn du ihn besuchst, nimm Saleh mit«, schlug ROSS vor. »Er hat ein ehrliches Gesicht, und wahrscheinlich wird Ephraim mit ihm reden.«
»Heißt das, ich habe kein ehrliches Gesicht?«
»Als Jalal hast du gar kein Gesicht.« Er begann, sein Hemd aufzuknöpfen. »Du erkennst
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