Wilder als Hass, süsser als Liebe
ben Abraham an ROSS. »Verehrter Kilburn, bitte mach uns die Ehre, ein hebräisches Lied zu singen. Deine Stimme ist so volltönend und schön.«
ROSS warf dem Juden einen irritierten Blick zu, denn die Bitte erschien ihm doch recht merkwürdig. Als Junge hatte er den ansässigen Vikar so lange gepiesackt, bis er ihm Hebräisch beigebracht hatte, welches die einzige Sprache aus dem Mittleren Osten war, die selbst in der Wildnis von Norfolk bekannt war.
Doch obwohl seine Kenntnisse darüber ihn bei den Juden Bucharas beliebt gemacht hatten, hatte er doch noch nicht für sie gesungen. Nun, er war als Kind im Schulchor gewesen, und er sang gerne, also intonierte er einen seiner Lieblingspsalme.
Als älterer Offizier im Haushalt des Nawabs stand Jawer Shahid Mahmud über derart simplen Aufgaben wie Wachestehen, aber er ließ es sich nicht nehmen, täglich für ein oder zwei Stunden bei seinem Gefangenen vorbeizuschauen, um ihn drohend anzustarren. Er war auch jetzt da und tuschelte in einer Ecke des Raumes mit einem Untergebenen. Nachdem er ein paar Verse des Psalms gehört hatte, brach
er seine Unterhaltung ab und hob die Hand, um ROSS zum Aufhören zu bringen. »Was redest du da?« fragte er mißtrauisch.
ROSS übersetzte pflichtbewußt die Worte und begann mit: »An den Ufern von Babylon setzten wir uns nieder und weinten, denn wir gedachten Zion.« Als er schließlich bei » Wie können wir das Lied des Herrn in einem fremden Land singen?« angelangt war, hatte Shahid schon das Interesse verloren. Mit einem Schnauben wandte er sich wieder an seinen Untergebenen.
ROSS begann das Lied erneut. Als er etwa die Hälfte gesungen hatte, war seine Kehle eng und heiser, denn das Gefühl der Verbannung, das die uralten Worte ausdrückten, ging ihm zu Herzen. Vielleicht wäre ein anderer Psalm besser gewesen.
Als er geendet hatte, breitete sich ein Schweigen des Respekts aus.
Dann ergriff Ephraim das Wort: »Hab’ Dank, verehrter Kilburn.
Nun möchte ich dich eine Hymne der Juden von Turkestan lehren.
Ich werde eine Zeile singen, meine Freunde werden den Refrain übernehmen. Es ist ganz einfach, du wirst es schnell lernen.«
Nach den ersten Sätzen konnte ROSS bereits mit den anderen einstimmen. Wie Ephraim vorausgesagt hatte, war das Lied, ein Gebet der Freude, sehr einfach. Die usbekischen Wachen gönnten ihnen kaum ein paar gelangweilte
Blicke.
Als die Hymne beendet war, strahlte Ephraim ROSS an.
»Ausgezeichnet. Nun singen wir ein anderes, etwas schwierigeres Lied. Wenn du die Worte nicht verstehst, bitte mich einfach, sie zu wiederholen.« Er sah ihn eindringlich an. »Du verstehst?«
ROSS, der plötzlich sehr aufmerksam wurde, nickte.
Klagend stimmte Ephraim auf Hebräisch an: »Ich habe soeben vernommen, daß nicht ein, sondern zwei Europäer zum Schwarzen Brunnen verurteilt wurden, obwohl sie kein Verbrechen begangen haben.«
Seine zwei Freunde fielen ein: »Er ist der Mächtigste der Mächtigen!«
»Der eine war dein Bruder«, sang Ephraim. »Der andere ein Offizier aus Rußland.«
Wie gelähmt starrte ROSS seine Gäste an, zu verblüfft, um den folgenden Refrain mitzusingen.
Ephraim fing seinen Blick auf und fuhr fort: »Ein Gefangener wurde zur Exekution abgeführt, wo er seinen Glauben erklärte und starb. Möge er in Frieden ruhen.«
Die anderen Männer tönten: »Er ist der Gesegneteste der Gesegneten.«
ROSS’ Herz begann heftig zu hämmern, als er endlich begriff, daß es sich um den dreisten Versuch handelte, unter den Nasen der Wachen Informationen zu übermitteln.
»Der andere erleidet noch immer das lebende Sterben des Schwarzen Brunnens«, sang Ephraim, »doch niemand kennt seinen Namen.«
Unfähig, noch länger schweigend zu lauschen, unterbrach ROSS
angespannt: »Verzeih, ich habe die Worte der letzten Zeile nicht ganz begriffen. Ist es dies?« Mit einem leichten Beben in der Stimme, fragte er: »Ihr wißt nicht, welcher Mann starb und welcher lebt?«
Sein Gast antwortete traurig: »Leider nein. Es gab Zeugen, die zu der fatalen Stunde da waren, aber sie sind sich nicht einig, welcher getötet wurde.«
Die anderen beiden stimmten ein: »Er ist der Herrlichste der Herrlichen.«
ROSS mußte noch eine Frage stellen. »Und der Überlebende haust noch immer im Schwarzen Brunnen?«
»Aye, er lebt, mehr können wir nicht sagen.«
ROSS schluckte hart. Als der Refrain vorbei war, murmelte er:
»Also könnte mein Bruder noch unter den Lebenden sein.«
»Aye, aber er kann auch tot
Weitere Kostenlose Bücher