Wilder als Hass, süsser als Liebe
wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Dann hatte sie plötzlich das Bedürfnis nach mehr Luft, zog den Schleier nieder und ließ den Wind zum ersten Mal seit vielen Stunden ihr Gesicht liebkosen.
»Möchtest du die Reise aufgeben?« fragte sie, als sie ihrer Stimme wieder trauen konnte. »Wenn wir umkehren wollen, ist jetzt die richtige Zeit dazu.«
»Ich habe es in Erwägung gezogen«, antwortete ROSS bedächtig.
»Aber auch wenn Abdul Wahab bei der Exekution dabei gewesen ist, wissen wir immer noch nicht, warum lan umgebracht wurde.
Dieses Wissen könnte sowohl für die Regierung als auch für deine Familie nützlich sein, und wir können es nur herausfinden, wenn wir nach Buchara gehen. Dazu kommt, daß es für deine Mutter sehr viel bedeutet, wenn lans Leiche zum Begräbnis nach Schottland überführt werden könnte.«
»Mir würde es auch sehr viel bedeuten.« Juliet wollte noch mehr hinzufügen, aber ihre Kehle zog sich zusam-men, und sie brachte kein Wort mehr hervor.
»Komm, gehen wir ein Stück spazieren, bevor wir zu-rück müssen.« Leicht legte er ihr die Hand auf den Rücken und führte sie in die Wüste hinaus.
Als sie nebeneinander her gingen, fragte sie sich, ob ROSS sich überhaupt bewußt war, daß er sie berührte. Wahrscheinlich nicht, denn die Geste hatte die beiläufige Vertrautheit eines alten Freundes, ohne jegliche Erotik darin. Ganz im Gegensatz zum Abend zuvor, als zwischen ihnen die Leidenschaft Funken gesprüht hatte.
Und sie spürte sie jetzt noch, die Leidenschaft. Den ganzen Tag war sie sich der Nähe ihres Mannes fast schmerzhaft bewußt gewesen. Doch sie fühlte, daß er sein Verlangen unterdrückt hatte, und das offenbar so gründlich, als hätte er eine Lampe gelöscht.
Daß er das konnte, überraschte sie nicht. Sie hatte es viel erstaunlicher gefunden, daß er sie zuerst begehrt hatte. Sie hatte es mit siebzehn nicht begreifen können, und nun hatte sie noch mehr Schwierigkeiten damit. Aber weil er der einzige Mann gewesen war, der ihr jemals das Gefühl gegeben hatte, wirklich begehrenswert zu sein, frustrierte seine Zurückweisung sie nun gewaltig.
Gott sei Dank empfanden sie noch Sympathie füreinander, auch wenn diese nur ein schwacher Abklatsch von dem war, was sie früher aneinander gebunden hatte. Und gerade in dieser Nacht, da sie mit dem Bild ihres sterbenden Bruders zu kämpfen hatte, brauchte sie seine Nähe dringend.
Nach einigen Minuten in Schweigen, durch das nur das schwache Knirschen ihrer Schritte und das Flüstern des Windes drang, sagte ROSS schließlich: »Vermißt du Großbritannien eigentlich jemals, Juliet?«
»Manchmal«, gab sie ehrlich zu. »Ich vermisse das Grün. Seltsam, daß die Briten Regen nicht einfach als normal, sondern oft genug als Ärgernis ansehen. Hier ist das Wasser ein Geschenk Gottes.«
Er nickte. »Hier werden Sonne und Hitze als normal und manchmal als Ärgernis betrachtet. In schlechten Sommern in England hält man diese Dinge für ein Geschenk Gottes.«
Sie lächelte ein wenig. »Ja, das ist schon wahr. Offenbar liegt es in der Natur des Menschen, sich immer nach dem zu sehnen, was selten vorkommt.« Dann verfiel sie wieder in Schweigen, weil sie nicht wußte, wieviel sie sagen konnte, ohne mehr einzugestehen, als sie es wollte. »So sehr ich Serevan liebe, werde ich doch in Persien immer eine Fremde bleiben. Ich habe erst wirklich begriffen, wie sehr ich durch europäische Werte geprägt bin, als ich begann, inmitten einer fremden Gesellschaft zu leben. Seltsam genug, aber ich habe weniger Probleme, mit den Männern auszukommen als mit den Frauen.«
»Ich denke, das liegt an deiner Art zu leben. Reiten, Waffentragen, Befehle geben … das ist hier alles den Männern vorbehalten. Du hast niemals das eingeschränkte Leben einer orientalischen Frau kennengelernt, also hast du mit ihnen nicht viel gemein.«
»So habe ich darüber noch nie nachgedacht, aber es scheint genau das zu sein.« Juliet lächelte selbstkritisch. »Zuerst habe ich versucht, etwas zu verändern. Ich wollte die Frauen von Serevan befreien, sie überzeugen, ohne Schleier herumzulaufen und mehr Respekt zu verlangen.« »Von deinem Tonfall schließe ich, daß du wenig Erfolg gehabt hast.«
^^m
chara gehen. Dazu kommt, daß es für deine Mutter sehr viel bedeutet, wenn lans Leiche zum Begräbnis nach Schottland überführt werden könnte.«
»Mir würde es auch sehr viel bedeuten.« Juliet wollte noch mehr hinzufügen, aber
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