Wilder als Hass, süsser als Liebe
herauszufinden, und so kam sie auf die Füße und ging ohne weiteren Kommentar in den Hof. Vorzugeben, ein rauher Tar-gi zu sein, gab ihr die Chance, sich wie ein ungezogener Schuljunge zu benehmen, und sie mußte sich selbst eingestehen, daß es wirklich Spaß machte.
Langsam wurde es spät, und der Lärmpegel sank, als die Leute sich langsam zur Ruhe begaben. Ohne sich zu beeilen, als hätte sie nichts Besonderes vor, schaute Juliet nach den dösenden Kamelen und schlenderte dann über den Hof, zum Torbogen hinaus und in die Basar-Straße. Dort wandte sie sich nach links und folgte der Mauer der Karawanserei.
Als gewaltigen Kontrast zur Front des Gebäudes fand sie hinter der Karawanserei die leere Wüste vor, die sich, so weit das Auge reichte, nach Osten erstreckte. Unter der schmalen Mondsichel blies ein kräftiger Wind aus dem Norden, der die Dornenbüsche schüttelte, die sich hartnäckig in den kargen Boden krallten.
Juliet nahm einen tiefen Atemzug von der trockenen Luft, die nach Wüste duftete. Als sie wieder ausatmete, spürte sie, wie die Spannung von ihr wich. Ihre Maskerade war doch anstrengender gewesen, als sie vermutet hatte. Es war eine Sache, als Mann verkleidet zu sein, wenn sie mit ihren Leuten unterwegs war, denn die wußten ohnehin, wer sie wirklich war. Eine ganz andere Sache war es jedoch, monatelang dazu verdammt zu sein, die Verkleidung aufrecht zu halten. Aber immerhin hatte sie den ersten Tag erfolgreich gemeistert, und der zweite würde einfacher werden.
Sie stand reglos im Schatten eines knorrigen, borstigen “aumes und gewöhnte ihre Augen an das Sternenlicht. Kein Mensch war in der Nähe; die Männer, die durch die gewaltige Leere der Wüste reisten, zogen es gemeinhin
vor, die Gesellschaft von Gefährten zu genießen, wann immer es möglich war.
Etwa zehn Minuten später kam ROSS ohne Eile um die Ecke der Karawanserei gebogen. Selbst in der Dunkelheit hatte sie keine Schwierigkeiten, ihn an seiner Größe und der kontrollierten Kraft seiner Bewegungen zu erkennen. Juliet regte sich nicht und wartete gespannt, ob er sie entdecken würde. Etwa hundert Fuß entfernt blieb er zögernd eine ganze Weile stehen, dann kam er direkt auf sie zu.
Beeindruckt fragte Juliet sich, wie er sie so schnell hatte ausmachen können. Es hatte den Wind im Rücken gehabt, von ihrem Duft her konnte er sie nicht erkannt haben. Zudem hatte sie kein Geräusch gemacht, und ihr dunkles Gewand dürfte in den Schatten praktisch unsichtbar sein. Dennoch weigerte sie sich, ihm die Befriedigung zu geben, indem sie nachfragte, wie es ihm gelungen war. Als er nur noch ein paar Schritte entfernt war, fragte sie auf englisch: »Stimmt etwas nicht, ROSS?«
»Ich fürchte, so ist es.« Mit ausdruckslosen, unumwundenen Worten erzählte er ihr, was der Kafila-Bashi über den Ferengi gesagt hatte, dessen Exekution er gesehen hatte.
Juliet akzeptierte die Neuigkeiten mit stoischer Ruhe, denn es war nicht wirklich eine Überraschung. Doch als ROSS ihr den körperlichen Zustand des Mannes beschrieb und die Art, wie er in den Tod gegangen war, zog sie unweigerlich scharf und gequält die Luft ein.
»Es tut mir leid, Juliet«, schloß ROSS mit fast unhÖrba-rer Stimme.
»Leider wird lans Tod dadurch real«, gab sie zurück, wobei sie um ihre Haltung kämpfte. »In meiner Erinnerung ist er immer noch zwanzig und voller Energie und Lebensfreude. Ihn mir ausgezehrt vorzustellen, gefoltert vielleicht und so schwach, daß er kaum auf den Füßen stehen kann … das erscheint mir so falsch.« Sie zitterte plötzlich.
»Als wir noch klein waren, wünschten wir uns beide, die ganze Welt zu sehen und alles zu wagen, was gewagt werden konnte.
Und nun ist lans Zeit des Abenteuers vorbei, blutig beendet vor einer Menge neugieriger Fremder.«
Ihre Stimme brach. Das Bild ihres Bruders, wie er litt, hatte das frühere von ihm als kraftvollen, gesunden Mann ersetzt, und sie konnte es nicht mehr rückgängig machen. Wie betäubt fragte sie sich, ob das die Art war, wie Abenteuer gewöhnlich endeten - in Qualen und in sinnlosen Tragödien, und das Tausende von Meilen von zu Hause entfernt.
ROSS berührte ihre Schulter in wortlosem Trost. Sein Mitgefühl riß fast nieder, was ihr an Beherrschung geblieben war. Juliet senkte den Kopf, vergrub ihr Gesicht in den Händen und wollte nur noch weinen: Um den Tod ihres Bruders, über die Vergänglichkeit von Jugend und Hoffnung, um den Tod der Liebe. Um letzteres am allermeisten.
Zornig
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