Wilder Oleander
wird möglicherweise nicht lange leben, aber Gewähr für ein langes Leben hat ja keiner von uns. Dafür wird mein Kind, so lange es lebt, Liebe und Geborgenheit erfahren. David und ich werden dafür einstehen.«
Abby schaute sie entgeistert an. War Ophelia vielleicht doch nicht ihre Tochter? »Ihr Tay-Sachs-Test ist positiv?«
»Ich habe mich noch nicht testen lassen. Das hole ich nach, wenn ich wieder zu Hause bin.«
»Wenn der Test negativ ausfällt« –
und das wird er!
–, »dann haben Sie doch nichts zu befürchten.«
»Ich würde dennoch ständig verunsichert sein«, widersprach Ophelia. »Wie kann ich mich auf einen Labortest verlassen, wenn ich der Pille nicht vertrauen konnte? Ich würde von Arzt zu Arzt rennen, um mich zu vergewissern, und wann würde ich je beruhigt sein? Die dunkle Wolke würde immer über mir schweben – ist dem Labor ein Fehler unterlaufen? Werde ich ein Kind bekommen, das keine vier Jahre alt wird?«
Da war noch etwas anderes, was sie Abby unmöglich sagen konnte: In sexueller Beziehung war sie – und David nicht minder – ungemein spontan, weshalb beide sehr aufeinander fixiert waren und stets auf erotische Signale des anderen lauerten. Dadurch blieb die Beziehung lebendig und aufregend. Würde ihnen das verloren gehen? Würde die Angst vor einer Schwangerschaft sie zu übervorsichtigen Partnern machen, die sich genau an den Kalender hielten und Kondome benutzten?
Abby stand auf und trat an den offenen Kamin, dessen Sims mit Rokokofigürchen und vergoldeten Uhren bestückt war. Draußen peitschte der Wüstenwind die Bäume und Sträucher von The Grove zu einem wilden nächtlichen Tanz an. »Dr.Kaplan«, wandte sich Abby an Ophelia, »was wäre, wenn Sie keine Aschkenas wären?«
»Aber ich
bin eine Aschkenas.
«
»Nur mal angenommen«, sagte Abby, »als Diskussionsgrundlage.« Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Sie holte tief Luft. »Dr.Kaplan, ich muss Ihnen etwas sagen. Als ich sechzehn war«, sagte sie und begab sich wieder auf ihren Platz, »hatte ich eine kurze Affäre mit einem jungen Mann.«
Ophelia wunderte sich zwar über den Themenwechsel, hörte aber zu.
»Als dann in unserer kleinen Stadt eine Frau ermordet wurde, bezichtigte man mich der Tat und sperrte mich ein. Ich habe niemanden umgebracht, hatte aber schlechte Karten – mein Pflichtverteidiger ist sogar während des Prozesses immer mal wieder eingenickt.« Sie räusperte sich. »Ich war damals schwanger, wusste es aber noch nicht. Als der Gefängnisarzt meinen Zustand feststellte, war die Empörung groß. Schließlich lebte ich in einem Staat, in dem man es mit der Bibel sehr genau nimmt. Die Geschworenen waren außer sich. Ich wurde für schuldig befunden und landete hinter Gittern.«
Abby nahm einen Schluck Wasser zu sich, und Ophelia fragte sich, was diese Geschichte mit ihr zu tun haben mochte.
»Mein Baby kam im Gefängnis zur Welt.« Abby blickte Ophelia in die Augen, rang um Fassung. »Und dann nahmen sie es mir weg und verkauften es auf dem Schwarzmarkt.«
Sie brach ab, um ihrer Gesprächspartnerin Zeit zu geben, dies zu verarbeiten. Ophelias Gesichtsausdruck zeugte nicht länger von Geduld höflichkeitshalber oder Erstaunen, sondern drückte tiefe Betroffenheit aus. »Wie furchtbar«, sagte sie und dachte an ihr eigenes Baby, das erst seit ein paar Wochen in ihr wuchs, aber bereits ein menschliches Wesen mit einer Seele war.
»Als ich das Gefängnis verließ, begab ich mich auf die Suche nach meinem Töchterchen. Das nahm Jahre in Anspruch, kostete viel Geld und beschäftigte jede Menge Privatermittler. Immer wieder landete ich in einer Sackgasse, verfolgte die falschen Fährten. Ich sammelte Fakten und Daten und Namen und stellte daraus eine Kartei zusammen. Ich abonnierte einen Dienst für Zeitungsausschnitte und ließ mir alles an Artikeln über illegale Adoptionen schicken, über Babyverkäufe auf dem Schwarzmarkt, über adoptierte Kinder, die ihre leiblichen Mütter, und Mütter, die ihre Babys suchten, die man ihnen weggenommen hatte. Aber nirgendwo in diesem
Wust an Informationen entdeckte ich einen Anhaltspunkt, der mich zu meinem eigenen Kind geführt hätte.«
Wieder trank sie einen Schluck Wasser. »Bis schließlich der letzte Detektiv, den ich beauftragte, fündig wurde.«
Ophelia beobachtete, wie Abby ihr Glas abstellte, sich aus dem Louis XIV -Sessel erhob und ans Fenster trat. Obwohl es geschlossen war, vernahm man das Heulen des Sturms. Die Welt schien in
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