Wilder Oleander
war entsprechend verblüfft, als sich ein makellos gestärktes zusammengefaltetes Taschentuch in ihr Blickfeld schob.
Sie schaute auf, in ein fragendes Augenpaar. Er war älter als sie, sein dunkles Haar an den Schläfen ergraut und sein Mund vorteilhaft von Falten, die von Reife zeugten, eingerahmt. Erlesen der blaue Blazer, das weiße Hemd mit der kastanienbraunen Krawatte, die lässigen grauen Hosen. Wohlhabend sah er aus, wie ein Gentleman. Sissy nahm das Taschentuch mit dem Monogramm entgegen und betupfte sich die Augen.
»Warum so traurig?«, fragte er abermals.
Weil mein Ehemann fremdgeht.
Großer Gott, wie lächerlich sie sich damit machte! Fünf Jahre ging das schon so, ohne dass Sissy etwas davon geahnt hatte.
»Es tut mir Leid, dass Sie traurig sind«, sagte der gutaussehende Unbekannte leise.
Eine betörende Stimme. Und so blaue Augen, dass man darin schwimmen konnte. Sissy brachte keinen Ton heraus.
»Eine so bezaubernde Dame sollte nicht weinen.«
Sie reichte ihm das Taschentuch zurück. Fingerspitzen berührten sich. Zu dieser Art von Kontakt war es bislang nur bei Verwandten oder guten Freunden gekommen. Woher der Unbekannte so mir nichts, dir nichts aufgetaucht war? Von den Sternen? dem Mond? aus dem Weiher?
»Ich bin Alistair«, sagte er und streckte die Hand aus.
Über sich selbst erstaunt, griff Sissy danach und umklammerte sie wie einen Rettungsring. Sie wollte ihren Namen nennen, aber der Ruck, der mit der Berührung durch sie hindurchging, schnürte ihr die Kehle zu.
Er roch angenehm.
»Möchten Sie darüber sprechen?«
»Ich habe … jemanden verloren«, sagte sie.
»Ja dann.« Er nickte so verständnisvoll, als ob sie tausend Worte gesprochen hätte. »Das kann ich gut nachempfinden.« Und als sich jetzt Schmerz und Traurigkeit in seinen Augenausdruck mischten, sagte sich Sissy: Auch er hat jemanden verloren.
Im Mondlicht erinnerten sie seine Augen an einen Jungen aus der Highschool. Damals war sie noch Jungfrau gewesen und er hatte sich aufs Küssen verstanden. Ob dieser Alistair auch gut küsste?, fragte sie sich mit einem Blick auf seine Lippen. Und aus einem Impuls heraus stellte sie sich auf die Zehenspitzen und drückte sanft ihren Mund auf seinen. Er zuckte nicht zusammen, runzelte auch nicht die Stirn oder wich zurück oder verriet Überraschung. Sondern bedachte sie mit einem verschwiegenen Lächeln, neigte den Kopf und erwiderte den Kuss.
»Verzeihung«, sagte sie. »Ich bin verheiratet und sollte keinen Wein trinken.«
Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Entschuldigungen sind fehl am Platze«, sagte er leise. »Man kommt hierher, um glücklich zu sein.«
»Deswegen sind Sie hier?« Wie konnte sie sich zu einer derart persönlichen Frage hinreißen lassen! Und doch wollte sie die Antwort des Unbekannten hören.
»Ich bin hier, weil … « Er brach ab, hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen und sah über den Teich hinweg ins nächtliche Dunkel, wie auf der Suche nach Geistern.
»Tut mir Leid«, sagte sie.
Er wandte sich wieder ihr zu. »Sie entschuldigen sich in einem fort.«
»Diesmal galt das Ihnen. Es tut mir Leid, dass Sie jemanden verloren haben.«
»Sie verblüffen mich«, meinte er.
»Tu ich das?«
»Sie kamen her und waren traurig, und jetzt bedrückt Sie der Kummer eines wildfremden Menschen. Das ist ein seltener Charakterzug.« Er sah sie lange an. »Ich bin auf der Suche nach dem Glück.«
»Und? Haben Sie es gefunden?«
»In diesem Augenblick würde ich sagen, ja.«
Seine Stimme war schmeichelnd, eindringlich, strömte wärmend in ihr Inneres, heizte sie auf. Sissys Herz hämmerte. Seit ihren ersten Verabredungen mit Ed hatte sie nicht mehr so empfunden.
Alistair in seinem eleganten marineblauen Blazer weckte Illusionen von Yachten und Ozeanen und Freiheit. Ach, sich einfach im Unendlichen treiben lassen …
Sie hob wieder das Gesicht und er verschloss ihr den Mund mit seinen Lippen. Sie schlang die Arme um ihn, und er zog sie an sich. Die Umarmung wurde innig, die Küsse begieriger. In diesem Moment war Sissy Whitboro bereit, alles mit diesem
Unbekannten anzustellen. Ihn zu spüren ließ den Schmerz schwinden. Das plötzliche Verlangen in ihr vertrieb den Zorn und ließ all das Niederträchtige vergessen, auf das sie gestoßen war. Wie ein Vollidiot war sie sich vorgekommen, als sie am Telefon darauf bestanden hatte, ihr Ehemann sei Mitglied im Badminton-Club. Bei diesem Mann hier kam sie sich nicht wie ein Idiot vor. Sie
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