Wildes Blut
ohne die Geräusche und Gerüche, die der Wind mit sich bringt, zu kennen oder die Spur, die die Erde zeichnet und ihre eigene Geschichte erzählt, wenn man Auge und Ohr dafür hat.
In dieser Hinsicht war Rachel genau wie er weit weiser, als ihre Jahre es vermuten ließen. Und in diesem Augenblick fühlte er sich ihr näher als je zuvor; sie waren wie zwei Seiten einer Münze, gleich und doch verschieden und trotzdem ein vollkommenes Ganzes. Fast konnte er durch ihre Augen sehen, durch ihre Nase riechen, durch ihre Hände die Elemente fühlen, die sie bei ihrer Suche leiteten, als sie in immer größer werdendem Radius über den grasbewachsenen Boden schritt. Die Frühlingssonne machte ihr blondes Haar zu einem Heiligenschein, ihr Gesicht war in Trance entrückt. Sie war ein überirdisches Wesen, von einem Licht erfüllt, das nicht von dieser Welt war, sondern einem alten Ort entsprang, wo Engel wandelten und die Zukunft der minderen Sterblichen formten.
Slade wußte nun, warum sich manche zuflüsterten, sie wäre eine Hexe. In der Vergangenheit hatten auch ihn Menschen, weil sie das fürchteten, was sie nicht begreifen konnten, als Teufel verflucht. Und plötzlich war Rachel für ihn wie ein Lebenshauch, lebensnotwendig wie Essen und Trinken, als hätte Gott sie vom Anbeginn der Schöpfung füreinander bestimmt. In diesem Augenblick öffnete sich irgendwo im Herzen von Slade eine Tür, schwang einen Spalt auf, und der Geist von Thérèse erschien an der Schwelle, als hätte er sich schon lange danach gesehnt, dem Gefängnis zu entkommen und in das Schattenreich zu entgleiten, in das er gehörte.
Im selben Augenblick begann die Haselrute in Rachels Hand plötzlich zu zucken, und dann wippte sie so heftig und schnell, daß sie ihr fast aus der Hand gesprungen wäre. Ein glückliches und entzücktes Lächeln verklärte ihr Gesicht, und Slade fühlte, daß das zugrundeliegende Gefühl fast sexueller Natur war, und er wußte ganz intuitiv, daß sie so aussehen würde, wenn er sie lieben, zum Gipfel des Entzückens bringen würde – wie eine heidnische Göttin, golden und triumphierend. Er spürte die Erregung zwischen seinen Lenden, und ihr entzückter Schrei hallte in seinen Ohren wie ein Schrei der Ekstase und der Hingabe. Als sie vom Gipfel des imaginären Berges herunterglitt, schlug sie langsam die Augen auf, und ihre Blicke begegneten sich.
Slades Augen tauchten in die ihren, und Rachel sah in ihnen seinen Hunger und sein Verlangen, aber auch noch etwas anderes, das sie nicht definieren konnte – bei jedem anderen hätte sie es Liebe genannt. Ihre Wimpern senkten sich, Röte stieg in ihren Wangen hoch, und ihr Herz fing an zu rasen angesichts der Hoffnung, die sich in ihrer Brust regte. Doch sie fing sich, wandte sich ab und Mr. Keife zu. »Da ist Ihr Wasser, Mr. Keife«, sagte sie triumphierend und zeigte auf den Boden. »Holen Sie die Schaufel und graben Sie, dann werden Sie sehen, daß ich recht habe.«
Einen kurzen Augenblick blieb Keife regungslos, ganz ehrfürchtig und fast verängstigt vor ihr stehen. Dann rannten Keife und seine Söhne nach ihren Schaufeln und begannen aufgeregt zu graben. Slade ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken, legte Hemd und Revolverhalfter ab und half mit. Nach kurzer Zeit stand auch er knietief in dem feuchten dunkelrötlichen Lehm, der unter der reichen schwarzen Krume der Prärie lag, während Rachel ihn heimlich musterte und sich trotz aller guter Vorsätze fragte, was für ein Gefühl es wäre, wenn sein sehniger, harter, nackter Körper den ihren vollkommen bedeckte und sich das nahm, was er von ihr begehrte und das sie ihm tief in ihrem Innern auch geben wollte.
Der Nachmittag verging und die Männer gruben immer noch. Sie hatten ein provisorisches Holzgestell errichtet, mit Eimer und Seil, um die Erde leichter aus dem Loch zu befördern. Zwischendurch reichte Mrs. Keife kaltes Huhn und Kartoffelsalat, die Reste vom Mittagessen, um die Männer zu stärken, und goß Limonade ein, um ihren Durst zu stillen. Rachel saß auf der Decke und beobachtete ebenso fasziniert wie die drei Keife-Mädchen, die immer wieder aufgeregt in das Loch spähten, wie der Brunnen mit glatten, festgestampften Lehmwänden allmählich Gestalt annahm. Die Männer hatten Glück, daß sie nicht auf Stein stießen, wie das manchmal auf den Plains passierte, und daß sie nicht so tief graben mußten wie andernorts. Kurz nach Sonnenuntergang, im dämmrigen Zwielicht, das den nahen Sommer
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