Wildes Blut
offensichtlich eine sehr beleidigende, wie Rachel aus dem erbosten Gesicht der molligen Schwester schloß. Nachdem Schwester Jemima schimpfend weitergezogen war, konnte Rachel die unhöfliche Frau deutlicher sehen und war etwas überrascht, als sie sah, daß sie wie ein Blutegel an Gustave Oxenbergs Arm hing.
Das muß doch Livie Svenson sein, das schwedische Mädchen, das Gus heiraten will, wenn sie ihn nimmt, dachte Rachel und beugte sich leicht nach vorn, um sich die junge Frau, die zwei Reihen weiter vorne stand, genauer anzusehen. Sie hatte sie sich wirklich ganz anders vorgestellt.
Rachel hatte eine große, blonde Wikingerin erwartet. Livie Svenson (sie war es tatsächlich) war statt dessen klein, mollig, mit einem dicken braunen Knoten im Nacken und einem dieser weichlichen Mondgesichter, die bei Kindern niedlich sind, aber mit denen die Erwachsenen meist wie schrecklich fette, ausgewachsene Gnome aussehen. Sie hatte kreisrunde braune Augen mit schwarzen, stoppeligen Wimpern, die heftig klimperten, sobald Gus in ihre Richtung sah, dicke, rote Apfelbacken, eine Himmelfahrtsnase und schrecklich viele Sommersprossen. Sie ähnelte einem dicken, kleinen Welpen, und Rachel wäre nicht überrascht gewesen, wenn plötzlich hechelnd eine rosa Zunge aus dem winzigen, geschürzten Mund gekommen wäre, aber er war wohl eher zum Schmollen als zum Hecheln bestimmt. Im Augenblick fixierte Livie Prediger Proffitt mit frömmlerischem Blick und einem gütigen, bigotten Lächeln. Doch ihre Augen erschienen Rachel hart und kalt, und ihr Kinn hatte etwas von dem eines störrischen Maulesels. Gus konnte einem leid tun. Diese Ehe würde kein Zuckerlecken für ihn werden, wenn er Livie Svenson tatsächlich heiratete, und so wie es aussah, würde er das ohne Zweifel tun.
»Brüder und Schwestern!« brüllte Prediger Proffitt mit heiserer Stimme und holte Rachel aus ihren Tagträumen in die Gegenwart zurück. »Das Herz schwillt mir in der Brust vor Glück, weil ihr das Wort Gottes gehört habt und erleuchtet worden seid, wie eure gütigen Spenden mir deutlich beweisen! Wenn der furchtbare, aber unabwendbare Tag des Jüngsten Gerichts kommt, werden diejenigen unter euch, die heute abend so großzügig gegeben haben, mit Sicherheit den Jordan überqueren und einen Platz im himmlischen Haus des Herrn finden, denn jeder bekommt das, was er verdient!«
Diese Worte wurden von den Versammelten mit einigen lauten Rufen von »Amen, Prediger«, quittiert, die Erregung hatte jetzt den Höhepunkt erreicht. Rachel fragte sich besorgt, ob die Leute sich bald in Trance auf dem Boden wälzen und fremde Sprachen sprechen würden. So etwas wie diese Messe hatte sie in ihrer eigenen Kirche noch nie erlebt, dort war alles leise, ernst und würdevoll. Selbst die religiösen Zeremonien der Schwarzen, die sie in Pennsylvania miterlebt hatte, waren zwar fröhlich und schwungvoll, aber immer respektvoll und gesittet. Diese zügellose Grölerei ähnelte dagegen der heftigen, unkontrollierten Wut eines aufständischen Mobs. Er war das reinste Pulverfaß, das jeden Augenblick hochgehen konnte. Doch Prediger Proffitt unternahm nichts, um die aufgewühlte Menge zu beruhigen. Im Gegenteil, er heizte sie sogar noch weiter an. Und ganz hinten im Zelt, ohne daß Rachel etwas davon ahnte, stand schwankend Jonathan Beecham, der genauso hingerissen und aufgewühlt war wie die anderen.
Beecham hatte dem Rachenputzer im Silver Slipper so heftig zugesprochen, daß er nicht mehr genau wußte, wie er ans Ufer gekommen war, geschweige denn, wie er in diese Versammlung geraten war. Aber jetzt war er in seinem Rausch davon überzeugt, der Herr hätte seine Schritte gelenkt, denn der Herr sprach ohne Zweifel aus dem Munde des Predigers Proffitt, und Schwester Tansy Mae war ein Engel, der vom Himmel gestiegen war, mit ihren roten Haaren und den grünen Augen, dem scharlachroten Mund und der milchig weißen Haut. Ihre Stimme hallte wie die Harfe eines Engels, und ihre ausladenden Brüste waren weicher als Wolken, stellte Jonathan sich in seinem benebelten Kopf vor. Er sehnte sich danach, sie ehrfürchtig zu küssen und zu liebkosen und seinen Kopf anbetend zwischen diese himmlischen Kugeln zu legen.
Schwester Tansy Mae würde ihn retten, ihn armseligen Sünder. Sie mußte ihn einfach retten! Er würde nicht enden wie dieses arme Schwein Rye Crippen – geteert und gefedert und zum Gespött der ganzen Stadt gemacht. Eines Nachts war er auf seiner mageren alten Mähre wie ein
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