Wildes Blut
die er seit Thérèse begraben geglaubt hatte, erwachten in ihm wieder zum Leben und wuchsen und gediehen.
In diesen Tagen entdeckte er, daß er sogar Schwierigkeiten hatte, sich an das Gesicht von Thérèse zu erinnern. Es verblaßte immer mehr und an seine Stelle trat Rachels Antlitz wie eine Skizze, die manchmal unter alten Gemälden zum Vorschein kommt. Irgendwie schien es, als wäre Rachel schon immer dagewesen, und zu seiner Überraschung mußte er feststellen, daß er sich ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen konnte.
Und so vergingen die Tage, einer wie der andere, während die Träume und Hoffnungen in beiden Herzen und kaum merklich Knospen ansetzten und sich langsam, aber sicher entfalteten, jede im geheimen für sich.
19. KAPITEL
Der April wich dem Mai, und der Regen, der nach dem Pflügen und Pflanzen auf die Felder geprasselt war, hörte auf, und auf ihn folgte eine Prärie, deren fette schwarze Erde feucht und voller Leben war. Die verschiedenen Gräser der Prärie wuchsen, alle in verschiedener Länge und in den herrlichsten Farben von Tiefblaugrün bis zu hellem Goldgrün. Die wilden Blumen blühten, so daß die Prärie einer rosigen Patchworkdecke glich. Rachel liebte die Plains im Frühling, wenn sie vor Leben strotzten, am meisten.
Die winzigen, in der Prärie heimischen Spatzen hatten hier überwintert. Jetzt gesellten sich auch die munteren Vögel wieder zu ihnen, die im letzten Herbst gen Süden gezogen waren: fette, rotbrüstige Rotkehlchen, schimpfende, blauweiße Eichelhäher und elegante Dompfaffen hüpften durch die grünbelaubten Pappeln, die den Fluß säumten und im sanften Wind raschelten. Wiesenlerchen trällerten im hohen Gras ihr Lied, und einsame Habichte schwangen sich in den strahlend blauen Himmel. Erdhörnchen und Präriehunde krochen aus ihren Bauten, und ganze Herden von graziösen Rehen und Antilopen jagten über die Ebene.
Am Morgen, so wie jetzt, funkelte der Tau wie Diamanten, die auf der Erde verstreut liegen, und reflektierte eine herrliche Farbenpracht. Cremefarbene Pilze sprossen so dicht und so üppig aus dem Boden, daß Rachel fast glaubte, die Märchengestalten ihrer Kindheit hätten hier getanzt. Aus der Tür ihres Blockhauses konnte sie in jede Richtung meilenweit sehen. Die weite, wogende Prärie schien sich bis ans Ende der Welt fortzusetzen. Sie sog die frische, belebende Morgenluft tief ein, dann machte sie sich wieder an ihre Arbeit, strahlend vor Glück, auf der Welt zu sein.
Heute war Waschtag. Sie hievte den schweren Waschkorb auf ihre Hüfte und ging zur Wäscheleine, um die sauberen Kleider in der warmen Sonne zum Trocknen aufzuhängen. Ganz in der Nähe untersuchten Andrew und Naomi mit einem Stöckchen ein kleines Loch, in das eine Spinne gekrochen war, während Toby, dem Rachel eine Decke auf dem Boden ausgebreitet hatte, quietschte und plapperte und mit großen, erstaunten Augen interessiert seine Umgebung musterte.
»Schau, Andy!« rief Naomi plötzlich aufgeregt und zeigte auf den Boden. »Da ist noch ein Loch. Das muß die Hintertür der Spinne sein. Hol Wasser, dann gießen wir’s rein und schauen, ob sie am anderen Ende rauskommt!«
»Andrew!« rief Rachel warnend, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie der Junge einen vollen Eimer zu dem neuentdeckten Loch schleppte. »Wenn das da unten eine Fiddleback ist und sie dich beißt, tut’s dir eine Woche lang weh.«
»Wir passen schon auf, Tante Rachel«, versprach er feierlich, dann begann er vorsichtig, aber voller Begeisterung, Wasser in den winzigen Tunnel zu gießen.
Rachel ließ die Kinder kopfschüttelnd, aber lächelnd gewähren. In ihrer Kindheit hatte sie viele Stunden damit verbracht, Insekten aus ihren Bauten zu spülen, und sie war noch nicht so alt, daß sie vergessen hätte, was für eine Freude es war, wenn sie am anderen Ende herauskrabbelten. Mit einem kleinen Seufzer der Wehmut wandte sie sich wieder ihrer Wäsche zu und fragte sich, warum Kinder wohl so viel Freude an so seltsamen Beschäftigungen hatten. Käfer faszinierten sie überhaupt nicht – besonders nach der Heuschreckenplage im letzten Jahr. In diesem Frühling waren die Felder von den Eiern der Insekten übersät gewesen und selbst jetzt noch schlüpften die gräßlichen Heuschrecken und vertilgten die jungen grünen Schößlinge. Auf einigen Feldern hatten sie zweimal säen müssen. Rachel konnte nur hoffen, daß die heimgekehrten Vogelschwärme die meisten Insekten auffraßen, bevor die Ernte
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