Wildes Erwachen
erlöst den Schuster von seiner Sprachverwirrung, dachte Kral.
Doch Schuster kam bei seiner eigenen Erwähnung von »Klartext« allmählich zur Besinnung. Er lachte still vor sich hin und wandte sich an Brückner: »Iich Depp, du houst doch ›Du‹ zu mir g’sacht?« Der Angesprochene nickte. »Dann soch i holt a ›Du‹ zu dir, Josef, Zeit is worn.« Er blickte auf Kral: »Und wos machen mir?« – »Wir schließen uns an!«
Nun war es endlich heraus und das musste dann doch noch formell mit einer Runde Schnaps begossen werden und bei der einen blieb es nicht.
Zum Mittagessen hatte es eine schmackhafte Kartoffelsuppe und dazu einen Kanten Brot gegeben. In ihrer Gegenwart wurde in der Regel nur wenig gesprochen. Doch an diesem Tag verbreitete sich die »Hexe« wieder mal keifend über ihre Anwesenheit auf dem Hof. Es sei »a Sind und a Schand«, die ihre Söhne mit der »russischen Huur« über den Hof gebracht hätten, und ihr Sohn solle möglichst bald für ihr Verschwinden sorgen. Hans-Jürgen reagierte auf den Vorwurf mit dem knappen Hinweis, dass man ihre Arbeitskraft dringend brauche: »Wer machd’n sunst die Ärberd, du kummst doch fast nimmer aus’n Haus!«
Nach dem Essen brachte ihr Peiniger sie in den Keller. Dort musste sie sich am Tag immer dann aufhalten, wenn keine Arbeiten im Stall oder im Haus zu verrichten waren. Wahrscheinlich würde er am Nachmittag im Außenbereich arbeiten und dort, das war die eiserne Regel, durfte sie auf keinen Fall gesehen werden.
Auch als sie mit Fritz zusammengelebt hatte, hatte niemand mitbekommen sollen, dass sie auf dem Hof lebte. Das war wohl der Mutter zu verdanken, die die Anwesenheit der »Russen-Hure« als Schande sah. Ja, sie hatte auch von früh bis spät arbeiten müssen, ohne einen Pfennig dafür zu sehen, aber sie wurde nicht als Gefangene gehalten, die man nach Lust und Laune schlagen und vergewaltigen konnte. Eigentlich war Fritz ein umgänglicher Kerl gewesen, der sie vielleicht wirklich geliebt hatte. Hoch und heilig hatte er ihr versprochen, dass alles anders werden würde, wenn sie erst einmal verheiratet sein würden und er den Hof übernommen hätte. Ja, wenn! Dieses Zankweib und der brutale Bruder hätten schon dafür gesorgt, dass Fritz nichts erben würde. Außerdem, eine Ehe mit Fritz? Eher nicht! Natürlich war sie ihm verpflichtet, schließlich hatte er sie aus dem Club geholt. Aber Dankbarkeit war keine Grundlage für eine Beziehung. Zudem war dieser Mann viel zu lahmarschig, er kuschte vor der Mutter und dem Bruder. Nein, mit dem Frauenhaus hatte sie nichts falsch gemacht. Wer konnte denn schon ahnen, dass Hans-Jürgen seinen Bruder umbringen und sie schließlich wieder auf dem Hof landen würde.
Der Felsenkeller, in dem auch die Kartoffeln gelagert waren, verfügte zum Hof hin über einen Schacht, der den Raum mit spärlichem Licht versorgte und mit einem vergitterten Fenster abgeschlossen war. Geräusche vom Hof, etwa den einfahrenden Milchwagen, nahm sie in gedämpfter Lautstärke wahr. Wenn sie sich auf den Schemel stellte, konnte sie sogar nach draußen blicken, aber die Sicht war durch die verschmutzten Fensterscheiben recht eingeschränkt.
Sie hatte sich auf die Liege gesetzt, die er für sie aufgestellt hatte. Noch immer hoffte sie, dass die Polizei irgendwie und irgendwann auf den Mörder seines Bruders und damit auch auf sie stoßen würde. Wieder einmal fragte sie sich, was die Polizei am Tag nach dem Mord auf dem Hof gesucht hatte. Denn der grün-weiße Wagen, da war sie sich sicher, musste ein Polizeiauto gewesen sein.
Sie hatte inzwischen gelernt, die Geräusche von draußen zu deuten, Gewöhnliches von Ungewöhnlichem zu unterscheiden. Das ständige Grundgeräusch, wie das Muhen der Kühe und manchmal das Quieken der Schweine, wurde jetzt übertönt vom Tuckern des Traktors. Der Bauer musste am Rangieren sein, so hörte sich das mehrmalige Vor und Zurück jedenfalls an. Schließlich wurde das Geräusch dumpfer. Jetzt dürfte er in die Scheune eingefahren sein. Kurz darauf hörte sie das heftige Zuschlagen der Haustür.
Bis zum abendlichen Füttern würde sie sich jetzt selbst überlassen sein.
Das kleine Dorf war fast rein bäuerlich geprägt. Nur am Ortseingang fand sich eine kleine Siedlung mit Einfamilienhäusern. In der Ortsmitte öffnete sich die Straße zu einem kleinen Platz, der ein paar zentrale Funktionen erfüllte: Wirtshaus, Spar-Laden, Feuerwehrhaus und ein größeres Gebäude. Es musste
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