Wildes Erwachen
vor allem Vorurteile gegenüber unseren östlichen Nachbarn.«
Der dermaßen Belehrte war ziemlich angefressen, verteidigte sich aber entwaffnend ehrlich: Er habe eigentlich nur das zum Ausdruck gebracht, was »viele hier in dieser Stadt denken«.
Inzwischen hatte Brückner dem Wirt eine Kassette der Kapelle »Kubešova dechovka« zugespielt. Natürlich konnte er nicht ahnen, was er damit angerichtet hatte. Die Mitglieder des Stammtisches, zum Teil selbst aktive Musiker und glühende Verehrer der böhmischen Blasmusik, waren völlig aus dem Häuschen, denn die Gruppe brillierte mit einem wunderbar weichen Klang und exakt ausgeführten Phrasierungen. So war es nicht verwunderlich, dass der »Dämmerschoppen«, der in der Regel gegen acht sein Ende fand, an diesem Tag etwas länger dauerte.
9
Als Ort der Verkündung seiner Beschlüsse hatte Dr. Josef Wohlfahrt, bayerischer Staatssekretär des Innern, das GPZ ausgewählt, das in ehemaligen Büroräumen der Firma Rosenthal untergebracht war. Außer ihm waren der Erste Kriminalhauptkommissar Schuster, Kapitän Brückner, Polizeioberrat Schneider als Leiter der Behörde, und Kral, das Objekt der Veranstaltung, anwesend.
Kral verglich Dr. Wohlfahrt, den direkt gewählten Abgeordneten des Wahlkreises Wunsiedel, zu dem auch Selb gehört, gerne mit dem französischen Komiker Louis de Funès, weil beide sich optisch wie Zwillinge ähnelten. Obwohl er sich im Wahlkampf einige Posen antrainiert hatte, die leutselig und kumpelhaft wirken sollten, fehlte ihm doch das große schauspielerische Potenzial des Komikers. Zu seinen Lieblingsgesten zählte das »Handauflegen«: Bei der Begrüßung landete seine Linke mit schöner Regelmäßigkeit am Oberarm des Gegenübers. Die Geste hatte ihm den Spitznamen Grapscher-Sepp eingebracht.
Beim Kaffee kam er zur Sache: Er lobte zunächst die effiziente und harmonische Zusammenarbeit zwischen deutschen und tschechischen Sicherheitsbehörden in den höchsten Tönen, um dann Kral ins Spiel zu bringen: »Nicht zuletzt der Herr Oberstudienrat hat hier bahnbrechend gewirkt und beim Fall ›Lucy‹ ist er in einer Weise hervorgetreten, die größte Achtung verdient.«
Kral war die Lobhudelei aus dem Mund des Politikers außerordentlich peinlich, wussten doch alle Anwesenden, dass er eher selten das sagte, was er wirklich meinte. »Aber ich habe doch nur …« Krals Versuch, seine Rolle in dem Entführungsfall zu relativieren, wehrte Wohlfahrt souverän ab: »Mein lieber Herr Kral, Sie sollten Ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen, was wahr ist, muss wahr bleiben!« Dabei klopfte er dem Angesprochenen anerkennend auf die Schulter.
Schuster und Schneider quittierten die Einlage mit wohlwollendem Lächeln, schließlich wussten sie genau, wie man auf die Signale des Leithammels zu reagieren hatte. Brückner dagegen verweigerte nicht nur den Beifall, er schien auch noch außerordentlich wütend zu sein. Die Ursache konnte nur in Wohlfahrts Beschwörung der Wahrheit liegen. Schon damals, als der Politiker den Ausgang der Entführung in einer Pressekonferenz kommentiert hatte, war ihm der Kragen geplatzt.
Jetzt bitte kein Eklat!, dachte Kral, als der Kapitän Anstalten machte, das Wort zu ergreifen.
»Apropos Wahrheit!«, begann der überraschend gefasst, »Sie sind damals mit der derselben etwas leichtsinnig umgegangen. Es waren eben nicht nur die überlegene Technik und die ausgefeilten Fahndungsmethoden der bayerischen Polizei, die zum Erfolg geführt haben.«
Dr. Wohlfahrt blieb ungerührt, lächelte milde und wandte sich an Brückner: »Lieber Herr Kapitän oder ›Kapitán‹, so sagt man doch bei Ihnen, volles Verständnis für Ihren Einwand!« Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander, griff zur Tasse und nahm genüsslich einen Schluck. »Sehen Sie, ich habe als Politiker eine hohe Verantwortung gegenüber den Menschen draußen im Lande. Sie sollen unserer Polizei vertrauen. Und ich sage Ihnen, nichts ist besser geeignet, dieses Vertrauen zu befördern, als Erfolge. Auch bei Ihnen drüben sitzt ein Mann, der die gleiche Aufgabe hat, und ich gehe davon aus, dass er seinen Job damals, so wie ich, auch ordentlich erledigt hat. Die deutschen Wähler waren zufrieden, die auf der anderen Seite auch. Was wollen Sie mehr, Herr Brückner?«
Der zeigte deutlich, dass er bedient war und wirklich nicht mehr wollte.
Auch für Dr. Wohlfahrt schien die Suche nach der Wahrheit beendet zu sein. Er straffte sich und seine Miene
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