Wildes Erwachen
Spaß an dem Disput gewonnen zu haben. Lächelnd stellte er fest: »Geschenkt! Ausgleich! Dann müssen wir eben in die Verlängerung gehen, wenn du erlaubst, mit einem ganz anderen Thema.«
»Bitte, leg los!«
»Mir gefällt die Art und Weise nicht, wie bei euch die Diskussion über diese verdammten Beneš-Dekrete geführt wird. Da sollen wir mal locker 143 Dekrete aufheben, von denen nicht mal zehn die Deutschen betreffen. Die anderen …«
»Die anderen sind mir wurscht!«, unterbrach ihn Kral heftig, »ich habe doch schon vor Jahren gesagt, dass einige dieser Erlasse jeglicher Rechtsstaatlichkeit spotten und manche Verbrechen an völlig Unschuldigen für null und nichtig erklären. Auf die kommt es mir an, verdammt noch mal!«
Dass Brückner seine Replik mit einem breiten Grinsen vorbereitete, kam Kral reichlich verdächtig vor. Aber ganz gleich, was der Bursche auch im Schilde führte, er würde sich davon nicht beeindrucken lassen.
»Dann wollen wir mal in die media dings …«
»In medias res!«, verbesserte ihn Kral leicht gereizt.
»Also gut, Herr Lehrer, dann eben in medias res.« Er holte aus der Schreibtischschublade das Exemplar einer Zeitung, der »Chebský Denik«, wie Kral nach dem umständlichen Entfalten erkennen konnte.
Mach’s nicht ganz so spannend, dachte Kral ungeduldig, denn der Major blätterte scheinbar ziellos in dem schon reichlich ramponierten Blatt. Bleib ruhig, der will dich doch nur ärgern!
Schließlich hatte Brückner die Stelle gefunden, die er gesucht hatte. Er glättete die Seiten, legte das Blatt vor Kral und forderte ihn auf: »Les das mal, ich habe die Stelle markiert.«
Kral hatte jetzt die Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung vor sich. Markiert war die tschechische Verlautbarung. Mit zunehmendem Erstaunen kämpfte er sich durch die hölzerne Gestelztheit des Vertragstextes: Er erfuhr, dass sich die tschechische Regierung für das Leid und das Unrecht entschuldigt, das den Sudetendeutschen bei der zwangsweisen Vertreibung angetan worden ist. Außerdem war zu lesen, dass die tschechische Seite die damals geübte kollektive Schuldzuweisung und die Amnestierung der verübten Verbrechen bedauert.
Ich Trottel! Warum kenne ich den Text nicht! Das ist doch genau das, was ich will und was viele andere Deutsche auch wollen. Nicht mehr und nicht weniger!
Er schob den Text von sich weg: »Kenn’ ich nicht! Ist bei uns irgendwie nicht angekommen.«
»Weil ihr da drüben die Versöhnung vor lauter Beneš-Dekreten nicht seht oder vielleicht gar nicht sehen wollt.«
Kral wurde wütend: »Vorsichtig, lieber Josef, pass auf, was du da sagst! Dein Pauschalisieren ist auch nicht gerade ein wertvoller Beitrag zur Völkerverständigung.«
»O.k., Jan«, lenkte Brückner ein, »nichts für ungut! Ich hab’ mich nur ein bisschen über euren Ministerpräsidenten Stoiber geärgert. Der will doch tatsächlich nach Prag fahren und dekretmäßig mal so richtig auf den Tisch hauen. Bleibt nur zu hoffen, dass sich unsere Pappnasen in der Regierung nicht vor Angst in die Hose scheißen.«
Kral schüttelte grinsend den Kopf: »Kannst du mir mal sagen, Josef, warum wir uns immer wieder mit diesem kindischen Spiel ›Wer ist der böse Mann?‹ beschäftigen?«
Brückner überlegte, fixierte ihn dann ernst und nachdenklich: »Weil sich offenbar nur zwei Gemischte so streiten können, dass nicht gleich der gesamte deutsch-tschechische Porzellanladen zu Bruch geht.«
Das Innenministerium hatte Kral nun offiziell dem GPZ mit acht Wochenstunden zugewiesen. Zu seinen Aufgaben gehörte auch die Abhaltung eines zweistündigen Sprachkurses für deutsche Polizisten und Zöllner. Auf diesen Kurs hatte er sich eigentlich gefreut. Schließlich hatten die erwachsenen Schüler das klare Ziel vor Augen, sich einer fremden Sprache zu nähern, die ihnen überaus nützlich sein konnte. Von den in der Schule üblichen Störungen des Unterrichts sollte er also verschont bleiben.
Welch grobe Fehleinschätzung! Die etwa 20 Kursteilnehmer, darunter drei Damen, waren nicht gerade das Publikum, das sich ein Pädagoge wünscht. Nur vier oder fünf der Anwesenden waren ernsthaft am Erlernen der tschechischen Sprache interessiert. Die anderen zeigten Verhaltensweisen, die von entspannter Interessenlosigkeit bis hin zu handfesten Störungen reichten. Ziemlich ungeniert wurden in den hinteren Reihen Privatgespräche geführt. Auch mahnende Blicke, in
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