Wildes Erwachen
ich bereits verständigt.«
Die Szene in dem düsteren Flur hatte für Kral archaische Züge. Das Opfer, dessen Schmerzen wahrscheinlich kaum zu ertragen waren, bat mit einem animalischen Heulen immer wieder um den Tod: »Derschloocht mi, Leit, derschloocht mi!« Dazu kam das laute Kreischen der Mutter: Keine Klage, nein, sie beschimpfte und verfluchte die Besucher. War sie gar der Meinung, die hätten ihren Sohn so zugerichtet? Stutzig machte Kral allerdings, dass sie ihre Verfluchung plötzlich auch auf irgendein »Weib« ausweitete.
Da sich die beiden Kontrolleure um den Verletzten kümmerten und mit Handtüchern die Blutung zu stillen versuchten, zupfte Kral Schuster am Ärmel und bedeutete ihm, vor das Haus zu treten.
»Hast du … oder muss ich Sie sagen …?«
»Warum Sie?«
»Du hast mich doch vorhin auch gesiezt!«
»Das war doch nur so ein blöder Reflex!«
»Also, hast du gehört, dass die Frau gerade von einem ›Weib‹ gesprochen hat?«
»Nein, muss ich bei dem Geschrei wohl überhört haben«, antwortete Schuster, »aber wir sollten uns beide mal den Blutspuren zuwenden. Ganz klar, dass sie aus dem Stall kommen. Vielleicht stoßen wir ja auf irgendein weibliches Wesen. Für den Mann können wir im Moment sowieso nichts tun.« Er blickte auf seine Armbanduhr: »Wenn die Nothelfer ihre Rettungsfrist einhalten, müssen sie in spätestens fünf Minuten da sein.«
Deutlich war auf dem Stallboden eine Blutspur zu erkennen, die an den Kühen vorbei zu einem Raum am anderen Ende des Stalls führte. Schuster stieß an die angelehnte Tür, die sich quietschend öffnete. Sofort fiel der Blick der beiden auf die mit Blut verschmierte Axt, die vor ihnen auf dem Boden lag.
»Hab’ ich’ mir doch gedacht, dass das kein Unfall war!«, kommentierte Schuster den Fund. Er griff zu seinem Handy: »Da muss die Spurensicherung her!«
»Aber wer könnte die Axt benützt haben?«, fragte Kral, nachdem der Kommissar das Gespräch beendet hatte, und wollte den Raum betreten, um sich dort umzusehen.
»Nicht gut!«, hielt ihn Schuster zurück, »da ist überall Blut, da sollten wir nicht durchlatschen.«
Der Rübenhäcksler und die vielen Eimer und Säcke waren ein Zeichen dafür, dass hier das Futter zubereitet wurde. In der Mitte des Raumes war ein großer Haufen mit gehäckseltem Stroh gelagert, das wahrscheinlich als Einstreu für das Vieh vorgesehen war.
Wahrscheinlich wäre Kral der Stiefel gar nicht aufgefallen, der am Rand des Haufens nur mit der Kappe aus dem Stroh hervorlugte. Aber genau zu dieser Stelle führte eine dünne Blutspur.
»Wenn mich nicht alles täuscht«, wandte er sich an Schuster und deutete auf den Fund, »liegt da im Stroh ein Stiefel. Könnte jemandem gehören!«
»Also, dann rein, aber vorsichtig!«, entschied Schuster. Beim Nähertreten stellten sie sofort fest, dass hier ein menschlicher Körper lag, bedeckt mit einer dünnen Schicht Streu. Die bäuerlich gekleidete Frau hatte die Augen geschlossen und war dem Anschein nach leblos. Kral staunte nicht schlecht über Schuster, der jetzt neben der Frau kniete und unaufgeregt, aber anscheinend fachgerecht nach Lebenszeichen suchte.
»Vermute Herzstillstand, aber noch nicht lange«, wandte er sich an Kral, »wir müssen reanimieren!«
Wir ist gut, dachte Kral, ich hab’ das zwar öfter im Film gesehen, aber wie man das genau macht, keine Ahnung! Er verfluchte seine Trägheit. Dabei wurden doch bei der Selber Feuerwehr in schöner Regelmäßigkeit Erste-Hilfe-Kurse angeboten. Aber er hatte das natürlich nicht nötig. Schließlich hatte er den Kurs schon mal beim Erwerb des Führerscheins gemacht.
Schuster bereitete die Beatmung der Frau vor und gab ihm Anweisungen, wie er die Herzdruckmassage durchführen sollte. Als er auf die Knie gegangen war und loslegen wollte, hörten sie das Martinshorn eines Rettungswagens.
»Weise du die Leute ein!«, befahl ihm Schuster, »aber der Notarzt muss sofort hierher kommen!«
Kral ging auf den Notarztwagen zu, der gerade in den Hof eingefahren war und setzte seine Meldung ab: »Weibliche Person da«, er deutete in Richtung Stall, »Herzstillstand, Reanimation eingeleitet, und Mann mit schwerer Kopfverletzung im Wohnhaus!«
»Die Frau übernehmen wir!«, antwortete der Notarzt, »der RTW muss auch gleich da sein, schicken Sie die Besatzung ins Haus!« Dann hastete er mit seinem Begleiter in Richtung Stall. Jetzt näherte sich auch der Rettungswagen.
Nachdem Kral die Rettungssanitäter
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