Wildes Erwachen
Nürnberger, der gerade mit einer Fuhre den Stall verlassen hatte. Die beiden Bügel, die dem Gefährt einen waagrechten Stand verleihen, knallten auf die Steinplatten und schon kam er in den Stall gehastet und schloss die Tür. Das konnte nur bedeuten, dass sich jemand dem Hof näherte, der sie auf keinen Fall zu Gesicht bekommen durfte.
Aufgeregt schrie er sie an: »Schau fei, dass’d nunter kummst!« Dann packte er von hinten ihre Oberarme und drängte sie in Richtung Wohnhaus.
Wenn jetzt jemand kommt und ich bin wieder im Keller, dann wird mich wieder niemand finden. Auf keinen Fall in den Keller! Sie überlegte und sah zwei Möglichkeiten, den Gang in ihr Gefängnis zu verhindern: Sie könnte sich wehren und einfach nicht mitgehen. Nicht gut: Er würde kurzen Prozess machen, sie womöglich niederschlagen und in ihre Zelle schleifen. Die Axt! Es musste die Axt sein! Der Gedanke, sich einfach loszureißen und auf den Hof zu rennen, war schon verdrängt. Nürnberger musste bestraft werden! Mit der Axt! Und die Futterkammer war nur ein paar Meter entfernt.
»O.k., ich gähe!« Sie ging ein paar Schritte in die vorgegebene Richtung. Der Griff um die Arme lockerten sich. Eine heftige Drehung um die eigene Achse löste die Umklammerung schließlich und sie stand ihm gegenüber. Er blickte sie ungläubig staunend an. Jetzt mit aller Kraft ein Tritt in seinen Schritt! Der heftige Schmerz ließ Nürnberger laut aufschreien und in die Knie gehen. Die Motorengeräusche vom Hof her nahm sie zwar wahr, aber es gab für sie nur noch ein Ziel: die Axt in der Futterkammer!
Ihr Vater hatte damals bei den Hausschlachtungen immer mit dem stumpfen Ende zugeschlagen. Der Schlag musste allerdings genau zwischen den Ohren landen, sonst war das panisch quiekende Schwein nur noch schwer zu bändigen. Vaters Kommentar: »Sonst wird die Sau zur Wildsau und dann hast du den Schlamassel!« Die scharfe Seite? Nein, das war die Sache des Scharfrichters. Nürnberger hatte schwere Schuld auf sich geladen, aber vorher sollte er noch leiden und vor allem immer wieder von Träumen geplagt werden, die den ihren glichen.
Die Axt mit beiden Händen umklammert, wartete sie auf sein Eintreten. Langsam senkte sich die Klinke und die Tür öffnete sich. Noch immer stöhnend und leicht vornübergebeugt, schob er sich in den Raum. Seine Drohung: »Ward ner, iich derwisch’ diich …!« blieb unvollendet und es folgte ein tierischer Schrei, die Axt hatte ihn erwischt, aber sie schrammte über sein linkes Ohr und landete mit voller Wucht auf der Schulter. »Mädchen, wie oft hast du mir denn zugesehen! Genau zwischen die Ohren, hab’ ich gesagt! Jetzt sieh zu, wie du mit der Wildsau fertig wirst!«, hörte sie ihren Vater stöhnen.
Nürnberger schwankte, gleich würde er zu Boden sinken. Sie ließ die Arme sinken, die Axt glitt ihr aus der Hand. Der Faustschlag ins Gesicht traf sie völlig unerwartet. Sie sackte zusammen und fiel zur Seite. Jetzt Tritte, immer wieder Fußtritte in die Lenden, in den Bauch, zwischen die Beine und an den Kopf. Voller Panik schlug und trat sie um sich, aber ihre verzweifelte Abwehr ging ins Leere. Rasende Schmerzen nahmen ihr den Atem. Der Tritt in die Nierengegend kam ihr vor wie eine Erlösung: Zunächst grenzenloses Erstaunen über ein sanftes Schweben, dann Erleichterung: Er hat aufgehört. Wohlige Wärme durchflutete ihren Körper. Dann die Bilder: Endlich zu Hause bei den Lieben!
Mit Schuster war ausgemacht, dass Kral nicht mit ins Haus gehen sollte. Es würde kein gutes Bild abgeben, wenn plötzlich der falsche Makler auf der Bildfläche auftauchte.
Es hatte in den letzten Tagen kräftig getaut. Der Hof war von Pfützen übersät. Er hatte zwar kurz überlegt, einen Blick in die Scheune zu werfen, aber als er die Beifahrertür öffnete, bemerkte er, dass der Boden aufgeweicht und matschig war.
Dann eben nicht, dachte er und griff nach seiner Pfeifentasche.
»Kral, kommen Sie bitte, schnell!« Schuster stand in der offenen Haustür und winkte, dass er mit ins Haus kommen solle.
Was ist denn jetzt los? Jetzt siezt er mich wieder! Soll das heißen, dass das Du im dienstlichen Verkehr zu vermeiden ist?
Mit großen Schritten stakste er auf das Haus zu und versuchte dabei, den gröbsten Matsch zu meiden. Schuster empfing ihn gleich hinter der Tür: »Der Nürnberger ist schwer verletzt. Weit offene, stark blutende Wunde am Kopf und dann noch eine Verletzung an der linken Schulter. Notarzt und Krankenwagen habe
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