Wildes Herz
in Tyler, der alarmiert vorgetreten war. Er gebot mir, mit einer Geste ruhig zu sein.
„Hier stimmt was nicht!“, flüsterte er beinah tonlos. „Ich wittere einen unbekannten Wolf.“ Tyler schob mich hinter sich und schirmte mich durch seinen Körper ab. Diese Geste war mir nur allzu gut von Chris vertraut. Werwolffrauen waren gleichberechtigt. Wir kämpften Seite an Seite mit unseren Männern, aber dennoch nannten diese einen ausgeprägten Beschützerinstinkt ihr Eigen. Ich war noch dazu seine Alpha. Chris hatte ihm sicherlich aufgetragen, mich besonders im Auge zu behalten, während er Enya von grobem Unfug abzuhalten versuchte. Ich schob Tyler vor mich her, wollte der sture Bock mir nicht aus dem Weg gehen. Doch ich würde sicherlich nicht hier stehen bleiben und warten. Erst recht nicht, da ich jetzt lautes Knurren und Lärm vernahm.
„Tyler, geh mir aus dem Weg! Ich bin deine Alpha!“ Ich boxte ihm in den Rücken und rammte ihm von hinten meine Knie in die Kniekehlen, als er sich immer noch nicht rührte. Tyler ging in die Knie und ich verpasste ihm einen Stoß, der ihn die Wand touchieren ließ mit seinem Gesicht. Es musste wehgetan haben.
„Du verrücktes Miststück!“, fauchte mich Tyler zornig an und hielt sich die blutende Wange. Er hatte sich die Wange und Nase aufgeschürft. „Halte dich zurück, die Situation dort ist am Kippen. Du kannst da nicht reinstürmen. Riechst du das Adrenalin nicht? Und Leons Blut? Der Wolf ist stinksauer. Er lässt sich nicht einmal von Chris ins Gewissen reden, trotz dessen Alphamagie. Dabei ist der Typ nicht einmal sonderlich dominant.“
„Gerade dann, Ty, bin ich am Drücker. Ich bin ein wildes Blut“, erinnerte ich ihn. Wenn jemand es schaffen konnte, den wilden Wolf zu beruhigen, dann meine Wenigkeit. Das war keine Überheblichkeit. Ich besaß einfach die Fähigkeit, selbst den wütendsten Wolf zu beruhigen, wenn ich es denn wollte. Genauso gut konnte ich aber auch die Situation zum Kippen bringen. Nichts lag mir jedoch ferner, als die momentane Lage zum Eskalieren zu bringen. Nicht, wenn mein Gefährte und zwei meiner Freunde dort drinnen waren!
„Okay, aber lass mich vorgehen, Kleines!“, gab Tyler nach.
Die Situation, die ich vorfand, war wirklich verstörend. Leon war mit den Händen auf dem Rücken, an das Rohr eines Heizkörpers gefesselt. Er blutete aus etlichen Wunden im Gesicht und an den Armen. Seine Nase war wohl gebrochen und seine Augen völlig zugeschwollen und blau. Der fremde Wolf hatte ihn ordentlich in die Mangel genommen. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut, so harmlos, wie er just im Moment wirkte. Der Mann war groß, aber sehr schlank, geradezu hager. Er wirkte jung, höchstens wie zwanzig, aber darauf konnte man sich bei einem Wolf nicht verlassen. Er konnte genauso gut ein Jahrtausend alt sein. Sein hellblondes Haar hatte er zu einem strengen Zopf zurückgebunden und er trug eine Brille. Schüchtern, zurückhaltend, das war sein Naturell im Normalfall. Er war nicht dominant, ja fast schon unterwürfig. Im Moment war er aber außer Kontrolle. Geifer tropfte von seinen Zähne, die Augen blitzten Bernsteinfarben auf und er hatte Mühe an seiner menschlichen Form festzuhalten. Und Enya, dieses bekloppte Stück, hatte sich zwischen dem kurz vor der Explosion befindlichen Werwolf und dem Grund seiner Wut positioniert. Selbst, das die Hochschwangere vor ihm stand, etwas was jede Rage in der Regel zum Abflauen brachte, tangierte den fremden Mann nicht. Er war kurz davor, sich in seinem Tier zu verlieren. Der Mann war ein Überlebender des Genozids von Gliwice. Warum sonst sollte er hier sein und einen solchen Hass gegenüber dem vermeintlichen Peiniger empfinden?
„Geh mir aus dem Weg!“, keifte der Unbekannte Enya an. Er war kaum zu verstehen, zitterte die markante Kieferlinie unaufhörlich. Sein Unterkiefer war ein wenig nach vorne verschoben, passte nicht mehr zu seinem Oberkiefer. Ein deutliches Zeichen, der bevorstehenden Verwandlung.
„Es reicht jetzt, Jüngelchen!“ Mein Gefährte ließ sich in diesem Punkt nur allzu gerne von Äußerlichkeiten blenden. Wenn dieser Mann ein Gliwice-Überlebender war, dann war er älter als mein Mann. Chris trat vor den Wolf, ihre Nasen berührten fast einander, so sehr gingen sie auf Tuchfühlung und er starrte dem fuchsteufelswilden Wolf in die Augen. Ein Starrduell, na wunderbar! Auf so eine dämliche Idee konnte auch nur Chris kommen. Den Mensch könnte er in den Boden starren, aber
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