Wildes Herz
an.
»Sullivan ist mein Name, Catherine Sullivan. Das ist meine Tochter Éanna, Mr Nicholson«, stellte sich die Mutter vor, als wollte sie sich in einem Herrenhaus um eine Anstellung bewerben. Ganz bewusst nannte sie jedes Mal seinen Namen. »Wir suchen Arbeit, Mr Nicholson. Und wir sind kräftig genug, um diese Arbeit verrichten zu können.«
Éanna nickte und zwang sich weiterzulächeln, doch den Blick konnte sie dabei nicht vom Brot nehmen.
»Du scheinst den Sonnenuntergang mit dem Sonnenaufgang verwechselt zu haben«, spottete der Ganger und verzog den Mund. »Oder glaubst du vielleicht, um diese Stunde gäbe es noch Arbeit für euch? Kommt morgen früh wieder.«
»Das haben wir auch vor«, erwiderte Catherine ruhig. »Aber wir wollten uns heute Abend schon einmal vorstellen, damit Ihr morgen wisst, auf wessen Arbeitkraft Ihr Euch verlassen könnt, Mr Nicholson.«
Ein Anflug von Belustigung, aber auch Überraschung zeigte sich auf dem plattnasigen Gesicht des Gangers. »So, vorstellen wollt ihr euch! Sieh an!« Er lachte kurz auf und schüttelte den Kopf, als wäre ihm ein solch törichtes Ansinnen noch nie zuvor begegnet. Und mit bissigem Sarkasmus fragte er: »Ein Empfehlungsschreiben habt ihr aber nicht dabei, oder?«
Die Mutter bewahrte Haltung. »Wir sind, was Ihr vor Euch seht, Mr Nicholson: Catherine und Éanna Sullivan, zwei kräftige Frauen, die hart zu arbeiten wissen und keine Schwierigkeiten machen«, gab sie bestimmt zur Antwort. »Und wir wären Euch zu großem Dank verpflichtet, wenn Ihr morgen früh …«
»Schon gut!«, fiel ihr der Ganger säuerlich ins Wort. »Spart euch das. Und wiederholt nicht ständig euren Namen, Catherine … Sullivan!« Er verdrehte die Augen. »Ich leide noch nicht unter Gedächtnisschwund, dass ich einen Namen in wenigen Minuten gleich zehnmal hören muss, um ihn nicht zu vergessen.«
»Verzeiht meine Aufdringlichkeit«, murmelte Catherine und senkte den Blick. »Ich hatte nicht vor, Euch …«
»Genug!«, schnitt er ihr erneut das Wort ab. »Ich weiß, was ihr wollt und wie ihr heißt, Frau. Kommt morgen wieder. Dann werde ich sehen, was sich machen lässt. Aber glaube ja nicht, dass ihr damit schon in meinem Buch steht. Bei mir gibt es keine Vorzugsbehandlung. Bei mir geht alles mit Recht und Ordnung zu.«
»Das glaube ich Euch. Und ich weiß, dass Ihr tun werdet, was Ihr könnt«, sagte Catherine dankbar. »Erlaubt mir eine letzte Frage, Mr Nicholson.«
Der Ganger runzelte die Stirn. »Was ist denn jetzt noch?«
Éanna schielte noch immer zum Brot hinüber.
»Wisst Ihr vielleicht, wo wir hier in der Umgebung die Nacht verbringen können? Irgendeine Behausung, die ein wenig Schutz vor Wind und Wetter bietet?«
Das Gesicht des Gangers verzog sich vor Zorn. »Was kümmert es mich, wo du mit deiner Tochter die Nacht verbringst, Catherine Sullivan?«, knurrte er. So, wie er ihren Namen diesmal aussprach, klang es wie eine Warnung, den Bogen nicht zu überspannen.
»Entschuldigt vielmals«, sagte Éannas Mutter hastig. Sie hatte ihren Fehler sofort erkannt. »Wir werden morgen pünktlich sein. Komm, Éanna!«
Ein letzter Blick auf das Brot, ein schweres Schlucken, und dann riss Éanna sich von dem Anblick los.
Kaum hatte sie sich jedoch umgedreht, als der Oberaufseher ihr knurrig zurief: »He, du da! Éanna! Komm her!«
Erschrocken fuhr Éanna unter seinem Anruf herum. Sie fürchtete, durch irgendetwas den Zorn des Gangers erregt zu haben, obwohl sie beim besten Willen nicht wusste, was sie getan haben könnte.
Und dann traute sie ihren Augen nicht, als Arsenath Nicholson zum Brotlaib griff. Er brach ein gut vier Finger breites Stück davon ab und hielt es ihr hin.
»Nimm schon!«, blaffte er sie an, als gäbe er ihr kein Almosen, sondern eine scharfe Zurechtweisung. »Und halte ja den Mund, verstanden? Ich habe keine Lust, dass mir das Pack gleich die Bude einrennt und mich für eine verdammte Suppenküche hält. Steck es weg und verschwinde!«
Éanna konnte ihr Glück kaum fassen. Ein dickes Stück Brot! Ihre Mutter und sie würden jeder zwei Scheiben Brot haben! Hastig trat sie zu ihm an den Tisch, nahm das Brot mit zitternder Hand und ließ es schnell unter ihrem Umhang verschwinden. »Gott segne Euch«, flüsterte sie.
Der Ganger machte eine unwirsche Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen.
Éanna lief zu ihrer Mutter, in deren Augen sie Tränen schimmern sah. »Hast du das gesehen?«, raunte sie ihr zu. »Er hat mir ein
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