Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
Vom Netzwerk:
Seite, und Arsenath Nicholson verkündete, wie viele von ihnen an diesem Tag auf Arbeit hoffen durften.
    »Vierundzwanzig freie Stellen!«, rief er schroff. »Männer elf Pence, Frauen acht und Kinder sechs!«
    Niemand wagte zu sprechen oder ihm direkt ins Gesicht zu blicken, als er nun hinter dem Tisch hervorkam und die Reihe entlangging. Wie ein Pferdehändler taxierte er Männer, Frauen und Kinder. Éanna biss die Zähne zusammen. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn er ihnen in den Mund geschaut und ihre Arme befühlt hätte. Bei manchem blieb er einen langen Augenblick stehen und nagte dabei an seiner Unterlippe, als wäre er sich nicht schlüssig, welches Urteil er fällen sollte. Wen er für arbeitsfähig hielt, auf den deutete er kurz mit dem Ende seines Federkiels.
    Stumm zählte Éanna mit, als die ersten Ausgewählten aus der Menge traten und sich neben der Bretterbude aufstellten, um sich ins Lohnbuch eintragen zu lassen. Mancher begann, leise zu weinen. Andere gaben einen gequälten Seufzer von sich oder bekreuzigten sich in stummer Dankbarkeit.
    Zweimal kam der Ganger an ihr und ihrer Mutter vorbei. Doch er schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. Sein Blick glitt über sie hinweg, als hätte er ihre Gesichter nie zuvor gesehen, geschweige denn ihre Namen gehört.
    Als er Nummer dreizehn und vierzehn heraustreten ließ, einen kahlköpfigen Mann mit seinem vielleicht zwölfjährigen Sohn, begann Éanna unruhig zu werden. Sie warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu. Hatten sie sich so in ihm getäuscht? Warum beachtete er sie denn nicht? Hatte er ihr das Stück Brot bloß aus einer flüchtigen Laune heraus geschenkt?
    Doch ihre Mutter blickte mit erhobenem Kopf geradeaus. Sie schien wie zur Salzsäule erstarrt zu sein.
    Éannas Unruhe wuchs und wurde schließlich zur Bestürzung, als Arsenath Nicholson nach Platz vierzehn und fünfzehn keinen Einzigen mehr aus den vorderen Reihen auswählte. Nur noch Männer aus den hinteren Reihen schickte er nach vorn. Als er begann, die Auswahl der restlichen Tagelöhner laut mitzuzählen, dröhnten seine Worte wie Gongschläge in Éannas Ohren. »Zwanzig! Ja, du da mit der zerkauten Pfeife! . . . Einundzwanzig . . . Zweiundzwanzig . . . Und ihr beiden Vogelscheuchen – dreiundzwanzig, vierundzwanzig!«
    Sie waren nicht dabei! Sie waren wirklich nicht dabei. Der Ganger war nicht einmal vor ihnen stehen geblieben. Catherines Mühe war vergebens gewesen. Keine Arbeit – das hieß Hungern. Hungern für wer weiß wie viele weitere Tage!
    Arsenath Nicholson war schon wieder auf dem Weg zurück zu seiner Bretterbude, als er über die Schulter zurückblickte. »Ach ja, und auch noch Catherine und Éanna Sullivan!«, rief er spöttisch. Wieder betonte er ihre Namen so übertrieben wie am gestrigen Abend. »Wir können heute zwei Tagelöhner mehr gebrauchen. Die ersten werden sowieso ausfallen, bevor die Sonne auch nur halb am Himmel steht.«
    Éanna schlug schnell die Hand vor den Mund, um den Schrei zu ersticken, der ihr in die Kehle stieg. Sie fasste nach der Hand ihrer Mutter, weil sie sich plötzlich ganz schwach auf den Beinen fühlte. Catherine schien es ähnlich zu gehen. Sie biss sich fest auf die Lippen, als wollte sie die Tränen zurückdrängen. Einen Augenblick hielten sie sich gegenseitig an den Händen. Dann hasteten sie zu den anderen Glücklichen hinüber und stellten sich an das Ende der Schlange.
    Als sie schließlich als Letzte vor den Ganger traten, um sich ins Lohnbuch eintragen zu lassen, blickte er mit einem breiten Grinsen zu ihnen auf. Dabei klopfte er sich mit dem Ende des Federkiels gegen seine tabakbraunen Zähne.
    »Komisch, fast wären mir doch eure Namen nicht wieder eingefallen!« Er schien sich köstlich zu amüsieren. »Es wäre aber doch zu schade gewesen, wo du dich gestern so darum bemüht hast, bei mir einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen … Catherine Sullivan.« Dann lachte er schallend los und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel. Die anderen – Tagelöhner wie Aufseher – schauten verwundert zu ihnen herüber.
    Arsenath Nicholson rannen die Lachtränen noch übers Gesicht, als er die Schreibfeder ins Tintenfass tunkte und ihre Namen ins Lohnbuch eintrug. Schließlich bedeutete er ihnen mit einem ungeduldigen Wink des Federkiels, sich den anderen Tagelöhnern anzuschließen.
    »Auch wenn es auf unsere Kosten ging – wer noch so lachen kann, der ist für das Gute in der Welt nicht ganz verloren«, raunte Éannas

Weitere Kostenlose Bücher