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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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doch dann sah sie, was Éanna meinte. Dort war ein Scalpeen – eine bessere Erdhöhle, die ein unaufmerksamer Vorbeikommender leicht übersehen konnte. Man hob dafür eine tiefe Grube aus, bildete aus Ästen und Brettern, die man sich aus einem eingerissenen Haus holte, ein Dach und deckte das Geflecht mit den Grasnarben ab. Éannas Herz pochte bis zum Hals, als sie sich der Höhle näherten. Sie würde es nicht ertragen können, wenn sie auf weitere Tote stießen.
    Zusammen schoben sie die alten Jutesäcke zur Seite, die vor dem Einstieg hingen, und spähten hinunter in die Erdhöhle. Zu Éannas Erleichterung war der Scalpeen leer – und fortan ihre Behausung.
    Éanna suchte rasch einige Zweige zusammen und stieß hinter dem Scalpeen sogar auf einige Stücke Torf. Dann trug sie alles zu ihrer Mutter, die bereits in die Höhle geklettert war. Schnell hatten sie ein Feuer entfacht, und auch wenn der Rauch schlecht abzog und in den Augen brannte, nahmen sie das für das wärmende Feuer gern in Kauf.
    Schließlich teilten sie das Brot auf.
    Schweigend und geradezu andächtig kauten sie jeden Bissen ausgiebig, ehe sie den Brei hinunterschluckten. Der Genuss, ein Stück Brot in der Hand zu halten und immer wieder davon abbeißen zu können, sollte so lange wie nur möglich anhalten. Es reichte nicht annähernd, um den Hunger zu stillen. Aber ertragen ließ er sich nun viel besser.
    Nach dem Essen sprachen sie gemeinsam das Nachtgebet und erbaten Gottes Segen für ihre Verstorbenen. Dann streckten sie sich nebeneinander auf dem nackten Boden aus.
    Éanna fielen vor Erschöpfung fast die Augen zu, als ihre Mutter etwas Seltsames sagte, das scheinbar allem zuwiderlief, was sie an diesem Tag durchgemacht und an herzzerreißendem Elend gesehen hatten.
    »Danke, Herr, dass du uns zu essen gegeben hast!«, flüsterte sie in die Dunkelheit. »Es war ein guter Tag!«

Viertes Kapitel
    Die Angst, nicht rechtzeitig am Steinbruch einzutreffen, brachte Éanna und ihre Mutter um einen Gutteil ihres Schlafs. Es war noch dunkel, als sie schwerfällig und mit klammen Gliedern aus der Erdhöhle stiegen. Das Gras im Graben und auf der Wiese war schwer und feucht vom Morgentau.
    Über den Pfad am Friedhof vorbei ging es zurück zur Landstraße. Gerade erst stemmte sich über dem welligen Horizont ein schmaler Streifen Grau gegen die schwarze Wand der Nacht, doch sie hatten gut daran getan, sich schon so früh auf den Weg zum Steinbruch zu machen. Denn sie waren bei Weitem nicht die Ersten.
    Von überall tauchten zerlumpte Gestalten aus der Dunkelheit auf. Es war, als hätte sie der weithin dringenden Klang einer Kirchturmglocke, die nur sie hören konnten, geweckt und herbeigerufen. Sie krochen hinter Büschen und Grenzmauern hervor, kamen aus einem kleinen Waldstück in Richtung des Klosters und zeigten sich auf den Feldwegen, die überall von der Landstraße abzweigten. Wie eine Armee fadenscheiniger Gespenster hasteten sie lautlos heran und vereinigten sich auf der Straße zu einem anschwellenden Strom, der nur ein einziges Ziel zu kennen schien: Arbeit.
    Kaum ein Wort fiel. Auch Éanna und ihre Mutter blieben still. Wie die anderen setzten sie alles dran, auf dem Weg zum Steinbruch so viele Leidensgefährten wie eben möglich zu überholen. Dennoch trafen sie dort schon auf mindestens sechzig, siebzig andere, die viel früher als sie hierher aufgebrochen waren.
    Frierend standen sie im kalten Morgen, warteten auf das Licht des neuen Tages, dessen Sonne hoffentlich etwas Wärme brachte, und darauf, dass Arsenath Nicholson endlich sein Buch aufschlug und verkündete, wie viele neue Tagelöhner er an diesem Morgen brauchte. Ein großer und mehrere Reihen tiefer Halbkreis bildete sich um die Bretterbude des Gangers. Diejenigen Arbeiter, die bereits im Steinbruch tätig waren, standen etwas abseits. Nicht wenige von ihnen hatten weder Mantel noch Schal oder Mütze. Viele waren barfuß. Und einige trugen zerrissene, zusammengeflickte Säcke als Kleidung. Mit glasigen, fast blicklosen Augen standen sie da und waren froh über jede Minute, die sich der Arbeitsbeginn verzögerte.
    Arsenath Nicholson besprach sich eine ganze Weile leise mit seinen Aufsehern, die seinen Tisch umstanden. Mehr als hundert Augenpaare verfolgten, wie er in seinem dicken Buch einen Strich nach dem anderen machte. Es waren die Namen derjenigen, die am Morgen hätten kommen sollen, aber nicht erschienen waren.
    Endlich war es so weit. Die vier Einpeitscher traten zur

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