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Wildes Herz

Wildes Herz

Titel: Wildes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Britt Harper
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trug, fragte sie sich, wie viel schlimmer es noch kommen konnte.
    Doch um die Mittagsstunde fiel ihr Blick auf ein fast gleichaltriges dunkelhaariges Mädchen, das vor ihr in der Reihe ging, und dem es deutlich schlechter ging als ihr. Sie besaß nicht einmal einen Mantel und schien mit ihren Kräften am Ende zu sein. Ihre nackten Füße versanken bis zu den Knöcheln im Schlamm. Wenn sie die Böschung hochwankte, fanden ihre Füße kaum noch Halt. Mehrmals rutschte sie zurück, und dabei neigte sich ihr Korb gefährlich zur Seite. Noch ein bisschen mehr, und sie würde sich nicht mehr rechtzeitig abfangen können und von dem Gewicht mitgerissen werden.
    »Warte! Ich helfe dir«, raunte Éanna ihr zu, als das Mädchen ihr erneut rückwärts entgegenrutschte. Schnell legte sie ihre Hände unter den Korb, gab ihr Rückhalt, und drückte ihn dabei auch noch ein wenig hoch, um sie zu entlasten. »Jetzt versuch es noch mal.«
    »Danke«, gab die Dunkelhaarige zurück und mühte sich den Hang hinauf. Mit Éannas Hilfe ging es bedeutend besser. Das Mädchen gab einen erlösten Seufzer von sich, als sie sich endlich oben auf der Straße befanden, wo es nun über ebenen Grund ging.
    »Wie heißt du?«, fragte Éanna.
    »Emily … Emily Farrell«, kam die leise Antwort. Sie schien selbst zum Sprechen zu schwach zu sein. »Und du?«
    »Éanna Sullivan.«
    »Danke, dass du mir geholfen hast, Éanna. Ich glaube nicht, dass ich sonst die Böschung hochgekommen wäre.«
    »Ist das dein erster Tag hier?« Éanna konnte sich nicht erinnern, das Mädchen schon mal gesehen zu haben.
    »Nein, ich bin bereits den neunten Tag dabei.«
    Éanna wollte es kaum glauben, dass sie Emily nicht längst bemerkt hatte. Andererseits: Wer von ihnen hob auch schon den Kopf, um zu sehen, wer die anderen waren, die sich mit ihnen quälten? Jeder hatte genug damit zu tun, sich auf seine Last zu konzentrieren, um nicht ins Visier der Einpeitscher zu geraten.
    »Neun Tage! Da bist du ja fast doppelt so lange dabei wie meine Mutter und ich! Hast du noch Familie?«, wollte Éanna wissen, als sie das Ende der Straße erreicht und ihre Körbe ausgekippt hatten. Sie warf einen Blick auf Emilys Gesicht, der die dunkelbraunen Strähnen tropfnass in die Stirn hingen. Sie war blass, und in den grünen Augen stand die Angst, den Tag nicht zu überstehen.
    »Sie sind alle tot«, sagte sie. »Im Januar mein Vater und mein letzter Bruder, und im Februar ist ihnen die Mutter gefolgt. Seitdem lebe ich auf der Straße der Sterne.« Ganz geläufig kamen ihr diese Worte über die Lippen, als berichte sie von einem völlig normalen alltäglichen Vorgang. Und das war er ja auch längst.
    Éanna fühlte sich fast schuldig, dass sie immerhin noch ihre Mutter hatte, während Emily zu dem großen Heer der Vollwaisen gehörte, die durch das Land irrten.
    »Pass auf, Emily. Du bleibst von jetzt an immer ganz nahe vor mir«, raunte sie, als sie wieder in den Steinbruch hinunterstiegen, um ihre Körbe zu füllen. »Ich schiebe dich von hinten an, so gut es eben geht.«
    Ungläubig sah Emily sie an. »Warum machst du das? Hier hilft niemand dem anderen! Jeder braucht doch das bisschen Kraft, das ihm noch geblieben ist, für sich selbst. Also warum willst du das tun?«
    Éanna zuckte die Achseln. »Weil ich hoffe, dass vielleicht irgendjemand auch für mich da ist, wenn ich mal Hilfe brauche«, sagte sie und füllte rasch ihren Korb, als sie bemerkte, dass einer der Aufseher sich mit verdrossener Miene ihnen näherte.
    »Darauf wirst du vergeblich hoffen, Éanna«, erwiderte Emily leise. »Aber Gott segne dich, dass du nicht so bist wie alle anderen.«
    Éanna bereute schon bald, ihr Hilfe versprochen zu haben. Vorher hatten ihr Beine und Rücken schon mehr als genug zugesetzt. Nun gesellten sie sich auch noch die Schmerzen in ihren Armen dazu. Aber sie wollte ihr Wort nicht brechen und hielt eisern durch. Wenn sie wenigstens Emily an diesem Tag davor bewahren konnte, ein Opfer der Aufseher zu werden, war das ein kleiner Sieg über die Unmenschlichkeit. An diesem Gedanken hielt sie sich fest, während sie Emily über den quälend langen, regenkalten Tag hinweghalf. Zudem war es gut, jemanden zu haben, mit dem sie dann und wann ein paar Worte wechseln konnte. Das lenkte viel besser ab als das stumpfe Zählen und brachte sie auf andere Gedanken.
    Als endlich der Abend kam und der Tageslohn ausgezahlt wurde, wollte Emily ihr zwei von ihren sechs Pence geben. »Nimm sie!«, drängte sie

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