Wildes Herz
und hielt ihr die Münzen mit zitternder Hand hin. »Du hast sie dir wirklich verdient, Éanna. Ohne dich hätte ich es niemals geschafft.«
»Kommt nicht infrage!« Éanna steckte sie Hände in ihren Umhang. »Du brauchst selbst jeden Penny. Mach es gut. Bis morgen, Emily.« Damit hastete sie davon, um ja nicht in Versuchung zu geraten, die zwei Pence doch noch anzunehmen.
»Das war nicht klug, was du gemacht hast«, sagte Catherine wenig später, als sie sich auf den Weg zu ihrer Erdhöhle machten. Sie gab sich sichtlich Mühe, nicht immer langsamer zu werden.
Éanna gab es einen Stich ins Herz. Ihre Mutter sah völlig erschöpft aus. Fast schien es, als wollte sie sich gleich an den Straßenrand setzen, weil ihre Beine sie nicht mehr trugen.
Sie hätte meine Hilfe heute genauso bitter nötig gehabt wie Emily, fuhr es Éanna durch den Kopf. Aber Catherine hatte Steine aufladen müssen, und wenn Éanna aus der Reihe geschert wäre, hätten die Aufseher sie sofort aus der Kolonne geworfen.
»Meinst du, ich hätte das Geld nehmen sollen?«, fragte Éanna schuldbewusst.
»Nein, das nicht. So etwas gehört sich nicht. Aber du hättest ihr nicht all die Stunden helfen sollen.« Éannas Mutter seufzte. »Ich weiß, es klingt hartherzig, aber wir haben keine Kräfte zu verschenken. Es bricht mir auch so schon das Herz, mit ansehen zu müssen, wie du dich abschleppst. Da kannst du nicht auch noch anderen helfen. Versprich mir, dass du das nicht wieder tun wirst!«
»Das kann ich nicht, Mutter«, sagte Éanna leise. »Das weißt du. Du hast mich selbst dazu erzogen.« Sie liefen einen Moment schweigend nebeneinander her. »Doch wenn ich merke, dass ich ihr nicht mehr helfen kann, werde ich es sein lassen.«
»Dann ist es schon zu spät«, erwiderte die Mutter ahnungsvoll und fiel in Schweigen.
Als sie sich endlich im Schutz ihrer Erdhöhle befanden, sackte Catherine kraftlos zu Boden. Éanna übernahm es, ein Feuer zu machen, in ihren Blechbechern Haferschleim anzurühren und ihn zu erwärmen.
Ihre Mutter wollte den Brei jedoch nicht annehmen. »Mir ist nicht nach Essen, Kind. Nimm beide Becher für dich. Du brauchst es. Du musst bei Kräften bleiben.«
»Du aber auch!«, erwiderte Éanna bestimmt. »Und jetzt nimm schon deinen Löffel und mach den Becher leer.«
Catherine widersprach nicht länger, griff nach dem Becher und löffelte den Brei erschreckend langsam und mit glasig abwesendem Blick hinein. Das Stück Brot wehrte sie beharrlich ab. Angeblich bekam sie nichts mehr herunter.
Éanna sah es mit Sorge, beruhigte sich aber damit, dass ihre Mutter einfach nur erschöpft war. Morgen würde es ihr bestimmt besser gehen. Und vielleicht hörte der verfluchte Regen ja über Nacht auf. Dann würde es im Steinbruch nicht mehr ganz so schlimm sein.
Doch als es kurz vor Morgengrauen Zeit wurde, sich wieder auf den Weg zu machen, kam Éannas Mutter nicht vom Lager hoch. »Ich kann nicht. Sei mir nicht böse, aber du musst heute allein gehen«, murmelte sie. »Mir ist es nicht gut. Ich glaube, ich habe mich gestern verkühlt.«
Éanna war sofort bei ihr und legte ihr die Hand auf die Stirn. »Du hast Fieber!«, stieß sie erschrocken hervor.
»Ja, ein wenig.«
»Das ist mehr als ein wenig, Mutter! Du musst zu einem Arzt.«
»Dummes Zeug! Was redest du denn da! Es wird sich schon wieder legen, Kind«, versicherte Catherine. »Und wo wolltest du auch einen Arzt finden, wovon ihn bezahlen? Wir haben uns noch nicht einmal zwei Shilling vom Mund abgespart, seit wir Arbeit haben.«
»Vielleicht gibt es in Gilkagh jemand, der sich auf die Hausmittel versteht?«, überlegte Éanna laut. Gilkagh war das nächste Dorf; nicht mehr als zwei Dutzend armselige Häuser um eine kleine Kirche. Aber es gab dort zwei Läden, die neuerdings gut von den Tagelöhnern des Steinbruchs lebten. Fast jeder brachte seinen kargen Lohn zu ihnen, um Haferflocken, Brot und Mehl zu kaufen.
»Nein, du darfst nicht zu spät zur Arbeit kommen! Dann sind wir verloren!«, sagte ihre Mutter erschrocken. »Du musst pünktlich sein, sonst nehmen sie dir die Stelle weg. Es ist besser, wenn ich mir einen Tag Ruhe gönne und wieder zu Kräften komme, als nach zwei, drei Stunden aus dem Lohnbuch gestrichen zu werden. Sobald ich gesund bin, wird der Ganger mich wieder arbeiten lassen. Jetzt geh endlich, Éanna! Du hast schon genug Zeit vertrödelt.«
Éanna wollte den Kopf schütteln, doch dann sah sie ein, dass sie ihrer Mutter am ehesten helfen konnte,
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