Wildes Herz
Schwarzfieber fangen wollt!« Damit sprang sie auf, war mit einem Satz über den Bach und rannte auf den Wald zu.
Éanna, Bridget und Emily folgten ihr auf dem Fuße.
Doch in dem Moment, in dem Éanna hinter der Steinmauer hervorsprang, merkte sie, wie wagemutig ihr Plan in Wirklichkeit war.
Vom Hügel aus hatten sie nicht richtig abschätzen können, wie weit der Waldrand von der Mauer entfernt war. Sie hatten kaum die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt, da kam es Éanna vor, als wolle das Herz in ihrer Brust schier zerbersten. Der Hunger hatte längst seinen Tribut gefordert; ihr ausgelaugter Körper gehorchte ihr nicht mehr so willig wie früher.
Und dennoch trieb die Angst sie vorwärts, diese alles beherrschende Panik, die ihr im Nacken saß und sie ihre letzten Kräfte mobilisieren ließ.
Die Alarmschreie gellten, als sie die ersten Bäume noch nicht erreicht hatten.
»Halt! Zurück!«, brüllte jemand. »Stehen bleiben, oder es wird geschossen!«
Éanna hörte die Worte, doch sie dachte nicht daran, etwas darauf zu geben. Lieber wollte sie sich erschießen lassen, als sich der Gefahr auszusetzen, in den Wochen der Quarantäne mit Typhus angesteckt zu werden. Unbeirrt rannte sie weiter – genau wie die anderen drei neben ihr.
»Robinson! Gray! Watkins!«, schrie der Offizier auf dem Fuhrwerk. »Feuer!«
Mit scharfem Krachen entlud sich die Salve aus den Gewehren der drei Soldaten, die ihnen am nächsten waren.
Die Kugel sirrten hoch über sie hinweg und schlugen mit einem dumpf klatschenden Geräusch in die Stämme vor ihnen ein. Offenbar hatten die Rotröcke Befehl erhalten, bei der ersten Salve über die Köpfe zu zielen, sozusagen als letzte Warnung.
Éanna spürte dennoch, wie der Schreck ihr in die Glieder fuhr, aber vielleicht hatte es auch etwas Gutes, denn obschon sie es nicht für möglich gehalten hatte, wurde sie abermals schneller.
Lauf! Das war alles, was ihre Gedanken beherrschte. Lauf noch schneller! Sie biss die Zähne zusammen und zwang sich weiter. Sie hatte nur diese eine Chance, und sie würde sie nutzen!
Und plötzlich war er da, der rettende Waldrand. Gemeinsam brachen erst Caitlin, dann Emily, Bridget und zuletzt Éanna durch das Unterholz und verschwanden hinter den ersten Baumreihen.
Gleich darauf schlug Éanna mit keuchendem Atem einen scharfen Haken nach links und stieß Augenblicke später auf eine Art Hohlweg. Sie stürzte den kleinen Abhang zu ihm hinunter, wäre dabei fast über eine Wurzel gestolpert, hetzte durch die laubgefüllte Schlucht, erklomm an ihrem Ende die kurze Böschung auf der linken Seite und rannte mit zunehmend stechenden Schmerzen in der Brust weiter.
Wütende Schreie und Zurufe der Soldaten schallten durch den Wald. Drei, vier weitere Schüsse krachten.
Doch weder die Stimmen noch die Kugeln kamen ihr nahe. Erst als die Seitenstiche schier unerträglich wurden, gönnte sich Éanna hinter einem Dickicht eine kurze Atempause. Mit fliegendem Atem lauschte sie in den Wald, ob ihr jemand gefolgt war. Doch das wilde Geschrei entfernte sich, statt näher zu kommen. Aber noch wollte sie sich nicht darauf verlassen, dass sie wirklich entkommen war. Sowie die Schmerzen etwas nachgelassen hatten, lief sie weiter und achtete darauf, die Richtung beizubehalten, um sich nicht zu verirren oder womöglich im Kreis und den Soldaten in die Arme zu laufen.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie den Waldsaum auf der anderen Seite endlich erreicht hatte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sie auf die nächste Hügelkette zu, um so rasch wie möglich aus dem Blickfeld ihrer Verfolger zu kommen.
Sie wusste nur zu allzu gut, dass sie keine Chance mehr haben würde, wenn jetzt noch einer der Soldaten hinter ihr auftauchen würde. Éanna war am Ende ihrer Kräfte.
Doch sie hatte Glück. Kein Rotrock tauchte früh genug in ihrem Rücken auf, um noch einen Blick von ihr erhaschen zu können. Mit pfeifendem Atem erreichte sie die Hügelkuppe und war endlich auf der anderen Seite – in Sicherheit.
Éanna wusste im Nachhinein nicht mehr, wie viel Zeit vergangen war, bis sie die halb eingerissene Kate fand, in der sie sich völlig erschöpft in den Dreck sinken ließ. Sie hatte jegliches Gefühl dafür verloren, wo sie war und wie viele Stunden verstrichen sein mochten, seit sie sich von den Freundinnen getrennt hatte.
Nur das eine wusste sie sicher: Sie hatte es geschafft – sie war entkommen – den Soldaten und damit der Quarantäne und dem Schwarzen Fieber,
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